Günther Uecker bereitete dem Nagel den Weg in die Kunstgeschichte. Jahrzehntelang hämmerte er Zimmermannsnägel in Stühle, Klaviere, Nähmaschinen und natürlich Leinwände. Nägel haben eigentlich etwas Aggressives und Verletzendes. Bei Uecker aber wurden sie sinnlich.

Nun ist der einstige Mitbegründer der weltberühmten ZERO-Gruppe, den viele nur den «Nagelkünstler» nannten, tot. Nach Angaben aus dem Umfeld der Familie starb er am Dienstag im Alter von 95 Jahren in der Uniklinik Düsseldorf im Kreis von Familie und Freunden. Er sei kurzfristig ins Krankenhaus gekommen, hieß es. Zuerst hatte die «Rheinische Post» berichtet.

Bis ins hohe Alter arbeitete Uecker in seinem Atelier in einem Speicher in seiner Wahlheimat Düsseldorf, umgeben von seinem kleinen «Familienbetrieb» – seiner Frau Christine und Sohn Jacob. Noch vor wenigen Wochen hatte er eine anstrengende Flugreise in die mittelasiatische Ex-Sowjetrepublik Tadschikistan unternommen, wo er eine Ausstellung hatte.

Internationales Aushängeschild der deutschen Kultur

Kulturschaffende und Politiker in Berlin und in Nordrhein-Westfalen trauerten um Uecker. In der gesamten deutschen Kunstlandschaft hinterlasse Uecker eine große Lücke, erklärte Kulturstaatsminister Wolfram Weimer. Nach dem Krieg sei Uecker zu einem international viel beachteten Aushängeschild des Neubeginns der deutschen Kunst und Kultur geworden. Weimer erinnerte auch daran, dass Uecker 2012 als erster westlicher Künstler nach der iranischen Revolution in Teheran ausstellte. Der künstlerische Austausch über Grenzen und Religionen hinweg sei immer Treiber seiner Schaffenskraft gewesen.

Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) bezeichnete Uecker als «einen der wichtigsten und einflussreichsten Künstler der deutschen Nachkriegsgeschichte». Mit seinem Lebenswerk habe Uecker Generationen junger Künstlerinnen und Künstler beeinflusst und mit «seinen Werken zu einer offenen und dynamischen Gesellschaft beigetragen».

Marion Ackermann, Präsidentin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, würdigte Uecker als «wunderbaren Menschen» und als «Künstler voller Vitalität und Zugewandtheit». Seine ungebrochene schöpferische Kraft habe sie tief beeindruckt, sagte Ackermann, die als langjährige Leiterin der Kunstsammlung NRW in Düsseldorf Uecker gut gekannt hatte. «Stets ging es bei ihm um die Frage, was den Mensch zum Menschen macht.» 

Nagelbilder als Ausdruck poetischer Kraft

Ueckers großformatige Nagelreliefs hängen heute in den großen Museen der Welt und den politischen Machtzentralen Deutschlands. Für Uecker waren die Nagelbilder immer auch tagebuchähnliche Seelenlandschaften, die er «Empfindungswerte aus der Zeit» nannte. Seine Reliefs mit den eng gehauenen Nägeln erinnern an wogende Gräser oder Ähren. Für Uecker waren sie auch «Ausdruck der poetischen Kraft des Menschen».

Der am 13. März 1930 in Wendorf geborene Bauernsohn war aber weit mehr als ein «Nagelkünstler», er war ein universaler Weltkünstler. Mit einer humanitären Friedensbotschaft reiste Uecker um die Welt, durfte auch in Diktaturen und totalitären Staaten ausstellen. «Mit Offenheit dem zu begegnen, was mich zutiefst befremdet» – das war Ueckers Quelle der Inspiration. 

Erklärung in Ueckers Biografie

Ausgebildet wurde Uecker in der DDR zum Reklamegestalter und musste einst ein 20 Meter hohes Stalin-Bild malen. «Ich wurde im dialektischen Materialismus gehirngewaschen», sagte Uecker einmal. Im Jahr 1957, da war Uecker schon im Westen, griff er erstmals zum Nagel. Mit dem aggressiven Akt des Nagelns wies er fortan auch auf die Gewalttätigkeit des Menschen hin.

Eine Erklärung findet man in Ueckers Biografie. Aus Angst vor der heranrückenden Sowjetarmee habe er am Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 das Haus verbarrikadiert und von innen zugenagelt, um seine Mutter und die Schwestern zu schützen, sagte Uecker einmal.

Künstlerischer Auslöser für den Einsatz des Nagels aber war für ihn die Revolutionslosung des sowjetischen futuristischen Dichters Wladimir Majakowski, Poesie werde «mit dem Hammer gemacht». Das war für Uecker die Herausforderung, seine «Faust, den Nagel, einfach ins Papier zu schlagen».

Mit Friedensbotschaften um die Welt

Ob China, Russland, Ägypten, Iran, Usbekistan oder Kuba – der Mecklenburger mit dem herzlichen Lachen war ein beliebter Kulturexport und ließ sich nie den Mund verbieten. Seine Kunst ging weit über Nagellandschaften hinaus. Er arbeitete mit Papier, Holz, Stoff, Stein, Asche und Sand.

Uecker malte Aschebilder nach der Tschernobyl-Katastrophe, kämpfte für das indigene Volk der Navajo und stellte auf Stoffe gemalte Menschenrechtsbotschaften in Peking aus. Hochpolitisch sind Ueckers Werke wie etwa die «Verletzungswörter». Uecker malte Worte der Gewalt, des Tötens und des Quälens in vielen Sprachen und fremden Schriften auf große Leinwände – die Sprachgemälde wurden poetisch. 

«Das Thema meiner künstlerischen Arbeit ist die Verletzbarkeit des Menschen durch den Menschen», sagte der mit vielen Preisen ausgezeichnete Uecker, als er im Jahr 2000 in den Orden Pour le mérite aufgenommen wurde. 2023 errichtete Uecker in Weimar ein Steinmal zur Erinnerung an die Opfer des NS-Konzentrationslagers Buchenwald.

Heimkehr: Fenster für Schweriner Dom 

Auch aufsehenerregende Bühnenbilder gehören zu Ueckers Werk, ebenso wie der Andachtsraum im Berliner Reichstag. Hunderte von Nägeln durchbohren dort ein Kreuzmotiv. Noch in hohem Alter gestaltete Uecker vier große blaue Glasfenster für den Schweriner Dom. Als Ende 2024 die himmelblauen Fenster im Schweriner Dom eingeweiht wurden, kam das für ihn einer Heimkehr gleich. «Meine Tränen flossen, meine Gefühle übermannten mich bei der Einweihung der Fenster», bekannte Uecker im Interview der «Rheinischen Post». «Der Ort der Sehnsucht ist die Heimkehr.» 

Die Verbundenheit mit der Heimat war immer tief. So ließ Uecker ein Nagelbild versteigern, dessen Erlös von rund 400.000 Euro er an die Kirchengemeinde der Ostseegemeinde Rerik für neue Kirchenglocken spendete. In Rerik bei Wustrow war Uecker einst zur Schule gegangen. 

Auf dem Kamel durch die Kunstakademie

1953 ging Uecker nach West-Berlin und zog 1955 weiter nach Düsseldorf. An der Kunstakademie studierte er bei dem pazifistisch engagierten Holzschneider Otto Pankok und wirkte dort selbst rund 20 Jahre als Professor. Einer der spektakulärsten Uecker-Auftritte: 1978 ritt er auf einem Kamel durch die Gänge der ehrwürdigen Akademie. Er hatte einen Sinn für Happenings: 1968 «besetzte» Uecker mit Gerhard Richter die Kunsthalle Baden-Baden, beide gaben sich vor der Kamera Küsschen.

Vom Image des ZERO-Künstlers kam Uecker ebenso wenig los wie von dem des Nagelkünstlers. In einem Atemzug wurde sein Name mit Heinz Mack und Otto Piene genannt. Die drei hatten als junge Künstler Anfang der 60er Jahre die nur wenige Jahre existierende Avantgarde-Gruppe ZERO gebildet, die mit ihrer puristischen Ästhetik einen Neuanfang in der Kunst nach dem Krieg suchte. Piene starb im Sommer 2014. Nun musste die Kunstwelt auch Abschied von Uecker nehmen. Mack ist 94.