Das Titelteam ist zerrupft, der Meistertrainer in Madrid und die großen Rivalen haben bei der Club-WM mächtig abkassiert: Gerade einmal 15 Monate nach dem größten Erfolg der Vereinsgeschichte muss Bayer Leverkusen einen XXL-Umbruch bewältigen. Auf dem ungewöhnlichen Trip nach Rio de Janeiro dürfte auch Trainer Erik ten Hag erstmals klar geworden sein, wie kompliziert seine Aufgabe wird.

Granit Xhaka, Lukas Hradecky und Co. schossen lächelnd ein paar Selfies von den Sehenswürdigkeiten in der brasilianischen Metropole. Wer von ihnen auch zum Bundesliga-Start Ende August noch das Bayer-Trikot trägt, ist aber völlig ungewiss. Der schon jetzt riesige Aderlass könnte bis zum Auftakt noch größer werden.

Rolfes: Siegermannschaft mit Talenten

«Wir wollen versuchen, eine neue Siegermannschaft aufzubauen», betonte Sport-Geschäftsführer Simon Rolfes im zehntägigen Trainingslager in Brasilien. Rolfes musste nicht nur Meistermacher Xabi Alonso (Wechsel zu Real Madrid) ersetzen, sondern auch Nationalspieler Florian Wirtz, Abwehrchef Jonathan Tah und Flügelturbo Jeremie Frimpong. Tah spielt künftig für die Bayern, Wirtz und Frimpong in Liverpool.

Die Herangehensweise ist nun eine andere als vor zwei Jahren, als Rolfes den Meisterkader baute. «Damals hatten wir ein gutes Gerüst mit jungen Spielern, haben daher viel Erfahrung dazu gekauft. Nun haben wir in der Mehrzahl Talente dazu geholt», sagte der 43-Jährige. Der entthronte Double-Gewinner steht vor einem radikalen und risikoreichen Umbruch – denn neben Wirtz, Tah und Frimpong drohen weitere Abgänge wie der von Stratege Xhaka.

Ten Hag muss als Ausbilder glänzen

Es ist ein Projekt, das der Realität geschuldet ist. Für einen Top-Akteur wie den an Liverpool für den Gesamtwert von bis zu 150 Millionen Euro verkauften Wirtz, so erklärt Rolfes, könne Leverkusen «halt nicht einen Ersatz gleicher Qualität verpflichten». So sieht es auch der neue Trainer ten Hag (55), dem aus seiner Zeit bei Ajax Amsterdam der Ruf vorauseilt, Nachwuchsspieler bestens formen zu können.

Der Alonso-Nachfolger will und muss Talente ausbilden, um erfolgreich zu sein. Dies gilt in erster Linie für die beiden Premium-Käufe, die jeweils die stolze Summe von 35 Millionen Euro gekostet haben. US-Nationalspieler Malik Tillman und der englische U21-Profi Jarell Quansah sollen nach dem Aderlass für die dringend benötigte Soforthilfe sorgen.

Maza als neuer Havertz?

Doch der Coach aus den Niederlanden scheint auch einen eher unbekannten Novizen auf der Rechnung zu haben. Auf einer Pressekonferenz für brasilianische Medien verblüffte er mit einem Sonderlob für Ibrahim Maza, den jungen Kreativspieler von Hertha BSC. Befragt zum einst nach London transferierten Kai Havertz und Wirtz, den Verkäufen der Superlative, bescheinigte er Maza enormes Potenzial: «Er könnte so einer werden.»

Als Ausbildungsverein auf allerhöchstem Level geht Bayer also in die neue Spielzeit. «Wir wollen die nächste Generation bilden», verkündete ten Hag, der das gewaltige Erbe des erfolgreichen Spaniers Alonso gewohnt selbstsicher angeht. Ten Hag lässt keine Zweifel zu: «Ich weiß, wie man mit Druck umgeht. Ich habe bewiesen, dass ich Trophäen gewinnen kann.»

Nach den ersten Trainingseinheiten auf der hochmodernen Anlage von CR Flamengo zeichnet sich ab, mit welchem Fußball er erfolgreich sein will. Gegenpressing und Tempoaktionen, Ballbesitzfußball und Positionsspiel, zudem scheint die Umstellung von einer Dreier- zu einer Viererkette angedacht. «Seine Version des Fußballs passt gut zu Bayer», urteilt Landsmann Mark Flekken, der Kapitän Hradecky als Nummer eins im Tor ablösen soll.

Andrich motzt über Testspiel

Ob der Denker und Lenker im Team dabei als Stratege weiterhin mitwirken wird, ist fraglich. Dauerthema im Camp: Was wird aus Xhaka? Der umworbene Schweizer äußert sich nicht zu seinen Plänen. Neom SC aus Saudi-Arabien soll sich aus dem Poker zurückgezogen haben, dafür meldet Premier-League-Absteiger Sunderland Interesse an dem bis 2028 gebundenen Regisseur an. Rolfes will Xhaka halten und erhofft sich zeitnah Klarheit.

Xhaka ist die brisante Personalie bei der perfekt organisierten Brasilien-Tour, die eine Werbekampagne für Bayer und die Bundesliga darstellen sollte. Der Stimmungsdämpfer beim ersten Testspiel kam da zur Unzeit. 

Ein gewaltiger Imageschaden entstand beim 1:5-Desaster gegen die U20 von Flamengo, bei dem viele Stammkräfte erst am Ende Schadensbegrenzung betreiben konnten, vorher eine zusammengewürfelte Nachwuchself einen uninspirierten Auftritt abgeliefert hatte. Kommentar von Nationalspieler Robert Andrich: «Schon eine kleine Katastrophe.»