So viele dicke Fragezeichen hatte Julian Nagelsmann noch nie vor einer Kader-Nominierung. Und das ausgerechnet vor dem Final-Turnier der Nations League. Läuft alles nach Plan, dann zaubern Jamal Musiala und Florian Wirtz die Fußball-Nationalmannschaft erst gegen Portugal und dann zu Pfingsten gegen Spanien oder Frankreich gemeinsam zum ersten Titel seit acht Jahren. 

Ob Musiala nach seinem Muskelbündelriss in zwei Wochen in der Münchner Allianz Arena aber überhaupt dabei sein kann, ist die wohl wichtigste der vielen offenen Personalien vor der Bekanntgabe des Aufgebots am Donnerstag (11.00 Uhr). Per Videobotschaft wird sich Nagelsmann dann an die Fans wenden. 

Bayern haben ihre Bedenken

Die Bayern haben ihre Bedenken für ein Musiala-Comeback im DFB-Trikot kurz vor der folgenden Club-WM in Amerika längst geäußert. Und das ist nicht das einzige Problem für den Bundestrainer. Torwart Marc-André ter Stegen als fix eingeplante Nummer eins und England-Profi Kai Havertz haben beim FC Barcelona und FC Arsenal nach Verletzungen die ersten Comeback-Minuten absolviert. Aber sind sie risikolos bereit für einen Titelangriff auf Top-Niveau? 

Stuttgarts Angelo Stiller hofft nach seiner Knöchelblessur erst einmal auf einen Einsatz im DFB-Pokalfinale am Samstag (20.00 Uhr) gegen Arminia Bielefeld. Die Zeit ist knapp. Und für Abwehrchef Antonio Rüdiger ist ein Mitwirken beim UEFA-Turnier in zwei Wochen noch unrealistischer – aber offenbar auch nicht gänzlich ausgeschlossen. 

Der Real-Profi ist neben ter Stegen, Joshua Kimmich und Leon Goretzka einer von aktuell nur vier potenziellen Nagelsmann-Kandidaten, die auch 2017 beim Gewinn des Confed Cups in Russland dabei waren, als die Nationalmannschaft noch unter Joachim Löw als Bundestrainer letztmals einen Pokal holte.

Nagelsmann sendet Signale

Nagelsmann muss abwägen und entscheiden, welche personellen Wagnisse er eingeht. Fehlende Wettkampfhärte versus große Qualität? Seine fünf Fragezeichen machen dem DFB-Chefcoach die Aufgabe nicht leichter. Es geht um Signale nach außen und innen, wie der WM-Weg 2026 beschritten wird. 

Die Nationalmannschaft funktionierte unter Nagelsmann am besten als verschworene Einheit, die war sie auch in der fast makellosen Gruppenphase der Nations League. «Es geht darum, das Bewusstsein zu schaffen bei der Mannschaft, gegen jeden Gegner nicht nur mithalten, sondern auch gewinnen zu können», formulierte Nagelsmann seinen Plan für das UEFA-Finalturnier.

Fest steht, dass die beim doppelten Viertelfinal-Spektakel gegen Italien im März (2:1/3:3) groß aufspielenden Nico Schlotterbeck und Tim Kleindienst für das Kräftemessen im Halbfinale gegen Portugal am 4. Juni (21.00 Uhr/ZDF) und dem erhofften Final-Showdown gegen Spanien oder Frankreich vier Tage später ebenfalls in München verletzt fehlen werden. Das schmerzt.

Der Ausfall von Nations-League-Toptorjäger Kleindienst (4 Tore) ist die Chance für Niclas Füllkrug. Der Fan-Liebling hat sich bei West Ham United nach langer Verletzungspause und einem «mega-schwierigen Jahr» zurückgekämpft und steht erstmals seit September auch für Nagelsmann wieder fürs Sturmzentrum bereit. Wie sehr es ihn ins DFB-Team drängt, hatte der frühere Bremer und Dortmunder bei seinem Privatbesuch im DFB-Quartier im März demonstriert.

Schlotterbeck-Ersatz dürfte dessen Dortmunder Abwehrkollege Waldemar Anton sein, der sich nach einer Leistungsdelle stabilisiert hat. Gute Chancen hat auch Yann Aurel Bisseck, der nach seinem Debüt im März als möglicherweise frisch gekürter Champions League-Sieger mit Inter Mailand direkt vom Finalort München ins DFB-Teamquartier in Herzogenaurach nachreisen könnte.

Keiner bekommt WM-Freifahrtschein

Trifft er dann dort auch auf ter Stegen, Havertz und Musiala? Das Trio brächte ganz viel Qualität ins Aufgebot. Der Bundestrainer muss aber sorgsam darauf achten, wer von den Stammkräften nach langen Pausen in seinem Comeback-Kader die nötige Fitness und Spielpraxis mitbringt. Es geht ein Jahr vor dem großen WM-Traum in Amerika auch um einen kontinuierlichen Kaderaufbau und um wichtige Zeichen an das Personal: Durchgeschleift wird keiner. 

Musiala wäre ohne jede Bayern-Minute seit seinem schmerzhaften Malheur Anfang April gegen Augsburg im DFB-Trikot wieder dabei. Dass die Münchner das auch mit Sorge betrachten, hat Max Eberl schon artikuliert. «Man möchte Jamal auch nicht verbrennen», sagte der Münchner Sportvorstand. Es gäbe «viel zu besprechen und zu klären».

Hilft die UEFA?

Genau das ist nun Teil von Nagelsmanns großem Sommer-Job. Gute Nachrichten sind von der UEFA zu erwarten. Dem Vernehmen nach steht die offizielle Entscheidung kurz bevor, dass wie bei den vergangenen großen Turnieren 26 statt 23 Spieler in den Kader berufen werden dürfen. Das würde dem Bundestrainer ein Polster für seine Comeback-Kandidaten verschaffen. 

Neben Wirtz, der im März verletzt fehlte, kehrt auch Aleksandar Pavlovic ins Aufgebot zurück. Der junge Münchner ist wie Leon Goretzka und Dortmunds Pascal Groß für die Sechserposition fix eingeplant. Schafft es Stiller nicht, wäre Felix Nmecha ein Kandidat, sollte Robert Andrich als Bayer-Reservist keine Berücksichtigung finden. Auch das wird Nagelsmann entscheiden müssen.