Kinder, die weinend vom Training kommen. Jugendliche, die sich trotz Erschöpfung zu weiteren Wettkämpfen zwingen. Immer wieder berichten Betroffene von psychischer Gewalt im Sport. Jüngste Fälle im Turnsport werfen erneut eine Frage auf: Warum bleiben solche Grenzverletzungen oft lange unentdeckt – und welche Rolle spielen dabei die Eltern? Zwei Expertinnen erklären Strukturen, Mechanismen und mögliche Warnzeichen.

Was versteht man unter psychischem Missbrauch im Sport?

Psychische Gewalt verläuft häufig über Sprache und Verhaltensmuster. «Es geht darum, Menschen kleinzumachen, sie zu demütigen oder zu kontrollieren», erklärt Jeannine Ohlert, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Deutschen Sporthochschule Köln. Kritik an einer Übung sei legitim, «aber wenn etwa gesagt wird: „Du bist ein Vollidiot, du wirst es nie hinkriegen“, dann handelt es sich um psychische Gewalt.»

Die psychische Gewalt hat mit 47 Prozent den größten Anteil an gemeldeten Gewaltformen, wie Ina Lambert, Psychologin und Geschäftsführerin der unabhängigen Ansprechstelle Safe Sport e.V., berichtet.

Anfang des Jahres erschütterten Missbrauchsvorwürfe den deutschen Turnsport. Mehrere Turnerinnen, darunter die deutsche Rekordmeisterin Elisabeth Seitz, berichteten von psychischem und körperlichem Druck an den Stützpunkten in Stuttgart und Mannheim. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen einen Ex-Trainer, es gab Durchsuchungen bei Verbänden. Der Deutsche Turner-Bund stellte Trainer frei und setzte eine Kanzlei sowie einen Expertenrat zur Aufarbeitung ein. Ziel ist es, Missstände aufzuklären und den Schutz von Athletinnen zu stärken.

Der Turnsport ist laut Lambert anfällig: «Im Turnen müssen bereits sehr junge Kinder extrem hohe Leistungen erbringen.» Dazu kämen starker Leistungsdruck, Fremdbestimmung und die enge Bindung an Trainerinnen und Trainer. 

Wie erleben Kinder psychischen Missbrauch?

«Wenn Kinder von Anfang an ein bestimmtes Verhalten erleben, halten sie es für normal», erklärt Lambert. «Gerade im jungen Alter fehlt oft die Fähigkeit, Übergriffe einzuordnen.» Viele Betroffene schildern später, dass sie sich selbst die Schuld gegeben hätten. Auch die Angst, den geliebten Sport oder wichtige Bezugspersonen zu verlieren, spiele eine große Rolle. Trainerinnen und Trainer bauten oft gezielt Abhängigkeiten auf.

Wo sind die Eltern und welche Rolle spielen sie?

Die Rolle der Eltern ist vielfältig und oft komplizierter, als es auf den ersten Blick scheint. «Viele Eltern sind gar nicht beim Training anwesend», erklärt Ohlert. «Sie fahren ihre Kinder hin und holen sie wieder ab.» Zudem würden Vereine oder Trainerinnen und Trainer Eltern häufig bewusst auf Abstand halten.

Dennoch zeigt die Erfahrung der Anlaufstelle Safe Sport e.V., dass Eltern eine zentrale Rolle spielen und viele sehr wohl aufmerksam sind: «Ungefähr ein Drittel unserer Ratsuchenden sind Eltern oder Angehörige», sagt Lambert. «Oft merken sie, dass irgendetwas nicht stimmt, können es aber nicht genau greifen.»

Eltern befänden sich häufig in einem Dilemma: Einerseits wollen sie ihrem Kind den Sport nicht nehmen, der eine wichtige soziale Rolle spielt. Auf der anderen Seite registrieren sie Veränderungen: «Einige Eltern berichten, dass ihre Kinder nach dem Training weinen, erschöpft oder niedergeschlagen sind, aber trotzdem weitermachen wollen.» In solchen Situationen sei es wichtig, offenzubleiben und Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Ex-Olympia-Turnerin Kim Bui kann diese Erfahrungen als Betroffene bestätigen. Durch das strenge Wiegen während des Trainings entwickelte sie eine Essstörung. Sich ihren Eltern anzuvertrauen, sei ihr sehr schwergefallen, wie sie im ZDF-«Sportstudio» sagte. Rückblickend habe ihr Vater seine Zurückhaltung erklärt. «Er wollte nicht reingrätschen in das Trainer-Athleten-Verhältnis», sagte Bui. «Manche Eltern sind da auch ein bisschen hilflos.»

Welche Warnzeichen sollten Eltern ernst nehmen?

«Wenn Kinder plötzlich keinen Spaß mehr am Sport haben, sich zurückziehen oder verändert wirken, sollte man hellhörig werden», sagt Lambert. Auch Aussagen wie «Ich muss gehen, um die anderen nicht zu enttäuschen» seien Alarmsignale. «Wichtig ist, im Gespräch zu bleiben und notfalls externe Hilfe zu holen.»

Ohlert betont zudem die Bedeutung von Aufklärung: «Eltern sollten wissen, welche Risiken im Sport bestehen, und Vereine müssen sie aktiv informieren.» Auch Lambert fordert mehr Anstrengungen: «Es gibt zwar Informationsmaterialien, aber Eltern sind oft schwer zu erreichen.» Der Kinderschutz müsse fester Bestandteil der Vereinsarbeit sein, damit alle Beteiligten sensibilisiert werden.

Was erschwert die Aufarbeitung und Veränderung im System?

«Es gibt viele gute Konzepte zur Prävention, aber es fehlt an konsequenter Umsetzung», sagt Lambert. Der Fokus auf Leistung und Erfolge überdecke oft den Kinderschutz. Ohlert ergänzt: «Solange Menschen in entscheidenden Positionen, keinen Veränderungswillen mitbringen, wird nicht viel passieren.»

Eine echte Fehlerkultur, ausreichende Ressourcen und Schulungen aller Beteiligten seien dringend notwendig.