«Manipulieren und Volkswagen, das darf nie wieder vorkommen» – mit diesem Satz trat Vorstandschef Martin Winterkorn am 22. September 2015 vor die Kamera. «Mr. Volkswagen» entschuldigte sich, räumte Fehlverhalten ein und versprach: «Wir klären das auf». 

Einen Tag später trat Winterkorn zurück und die umfassende Klärung der Verantwortung für die Manipulationen dauert bis heute an. Ein riesiges Betrugsverfahren gegen vier frühere Manager und Ingenieure – aber ohne Winterkorn auf der Anklagebank – steht nun kurz vor dem Abschluss. Das Urteil soll am Montag (26. Mai) verkündet werden. 

Worum geht es in dem Strafprozess genau?

Im April 2019 informierte die Staatsanwaltschaft Braunschweig über ihre Anklage gegen den ehemaligen VW-Chef Winterkorn und vier weitere frühere Führungskräfte beim Autobauer. Die Strafverfolger warfen ihnen eine «Mehrzahl von Straftatbeständen», vor allem aber einen besonders schwereren Fall des Betruges vor. 

Nach mehreren coronabedingten Verzögerungen begann das komplexe Verfahren unter den Pandemie-Einschränkungen mit Masken und Abstand in der Braunschweiger Stadthalle. Vor der Weltpresse startete die Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts ihren Versuch, die mutmaßliche persönliche Verantwortung von VW-Führungskräften für einen der größten deutschen Wirtschaftsskandale überhaupt aufzuklären. 

Aber schon vor dem Beginn war klar geworden, dass Winterkorn auf der Anklagebank fehlen würde. Sein Komplex war aus gesundheitlichen Gründen abgetrennt worden. Die meisten Beteiligten kritisierten das Fehlen des einst bestbezahlten deutschen Konzernlenkers scharf. Viele Beobachter sprachen von einem Auftakt ohne die eigentliche Hauptperson. 

Fast vier Jahre Verhandlung – Wie verlief der Prozess?

Ohne Winterkorn als Schlüsselfigur ebbte die Aufmerksamkeit für den Prozess schnell ab. Die Gruppe von Journalisten und anderen Interessierten dünnte schnell aus, bis irgendwann nur der Kern der Prozessbeteiligten blieb. Das Verfahren zog in normale Gerichtssäle im Landgericht um und fand dort vertieft in die technischen Details nahezu ohne mediale Begleitung statt. 

Nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft sollen die Ingenieure und Manager tief in die Entwicklung und den Einsatz der Manipulations-Software in Millionen Fahrzeugen verstrickt gewesen sein. Zur Klärung der Frage, wer wusste wann was über das geheime Programm, überzogen die vier Angeklagten ihren damaligen obersten Chef Winterkorn und sich gegenseitig mit Vorwürfen. 

So steht Aussage gegen Aussage. Ingenieure, die die Abschalteinrichtung vorgeschlagen haben sollen, sagen sinngemäß: Wir haben Bedenken geäußert und vor Konsequenzen gewarnt. Die Vorgesetzten entgegnen: Es wurde über Probleme gesprochen, nie aber über ungesetzliches Handeln oder gar Betrug. An dieser Konstellation änderte sich in 174 Verhandlungstagen mit rund 150 Zeugen nichts Wesentliches. 

Was weiß man heute zur Dieselaffäre?

Der Ursprung eines der größten deutschen Industrieskandale geht weit zurück. Mitte der Nullerjahre wollte VW mit Dieselautos in den USA gegenüber der Konkurrenz aufholen. Probleme bei der Einhaltung von Abgasnormen haben nach Überzeugung der Ermittler zu einer Serie von Verschleierungen rund um den Software-Trick geführt. 

Der Skandal flog im September 2015 auf, als die US-Umweltbehörde EPA über Manipulationen bei Abgastests von Dieselautos informierte. Kurz zuvor hatte VW falsche Testergebnisse eingeräumt. Wenige Tage später trat Konzernchef Winterkorn zurück und der Autobauer schlitterte in eine der größten Krisen der Unternehmensgeschichte. 

In der Folge gab es durchaus scharfe Konsequenzen wie Haftstrafen in den USA, VW zahlte ein Milliardenbußgeld an das Land Niedersachsen und Entschädigung für rund eine Viertelmillion Dieselkunden. In einem Anlegerverfahren gegen den Volkswagen-Konzern und die Dachholding Porsche SE wird seit 2018 um Schadenersatz für Investoren gestritten, die nach der Dieselgate-Affäre Kursverluste in Milliardenhöhe erlitten. 

Im ersten strafrechtlichen Urteil in Deutschland wurde Ex-Audi-Chef Rupert Stadler in München wegen Betrugs zu einem Jahr und neun Monaten Haft auf Bewährung und einer Zahlung von 1,1 Millionen Euro verurteilt. Dabei hatte es zunächst eine Verständigung gegeben, anschließend legten die Verteidiger aber überraschend Revision ein. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. 

Kurz vor dem Urteil – Was droht den Angeklagten?

In Braunschweig war die Überraschung in den Gesichtern vieler Prozessbeteiligter deutlich erkennbar, als die Ankläger vor wenigen Tagen ihre Forderungen für das Strafmaß vertrugen. Für drei der Angeklagten reicht aus sich der Staatsanwaltschaft eine Bewährungsstrafe nicht aus. Für sie beantragten die Strafverfolger zwischen drei und vier Jahren Gefängnis. Die Verteidigung dagegen plädierte auf drei Freisprüche und eine Verwarnung. 

In emotionalen Schlussworten betonten die Angeklagten, wie kräftezehrend und ermüdend sie den fast vier Jahre langen Prozess empfanden. Die von Haft bedrohten Männer machten deutlich, dass sie das geforderte Strafmaß zehn Jahre nach dem Auffliegen des Skandals fassungslos mache. Sie bezeichneten aber auch die jeweiligen Plädoyers für die anderen Angeklagten unter anderem als «irritierend und erschreckend». 

Während die vier Männer aus Sicht der Staatsanwaltschaft des Betrugs überführt sind, wehren sie sich vehement und sehen sich eher als Bauernopfer. Zum Ende des Prozesses wiederholten sie auch ihre Verwunderung darüber, dass Ermittlungen gegen andere Betroffene eingestellt wurden. Dabei schwingt der Vorwurf mit, dass sich einige Beschuldigte mit Gefälligkeitsaussagen bei den Ermittlern aus der Verantwortung stehlen konnten. 

Das Urteil fällt nun am Montag, dem 175. Verhandlungstag. 

Wie geht es weiter und was ist mit Winterkorn?

Die juristische Aufarbeitung, die allein VW nach jüngsten Konzernangaben 33 Milliarden Euro kostete, ist auch nach dem Urteil nicht beendet. In Braunschweig sind neben dem ersten Prozess und dem Verfahren gegen Winterkorn noch vier weitere Strafverfahren aus dem Komplex gegen insgesamt 31 Angeklagte offen, wie ein Sprecher des Landgerichts sagte. 

Bei neun Angeklagten wurden die Verfahren nach Angaben der Staatsanwaltschaft gegen Geldauflagen eingestellt. Gegen weitere 47 ursprünglich Beschuldigte des Gesamtkomplexes wurden die Verfahren demnach schon während der Ermittlungen gegen Geldauflagen und mit Zustimmung des Landgerichts eingestellt. 

Und Winterkorn? Nach Jahren ohne große Auftritte in der Öffentlichkeit wurde er Anfang 2024 vom Oberlandesgericht Braunschweig als Zeuge im Investorenprozess befragt und wies dabei die Verantwortung für den Dieselskandal von sich. «Ich halte diese Vorwürfe für unzutreffend», sagte Winterkorn. 

Ein paar Monate später äußerte sich der mittlerweile 77-Jährige als Angeklagter vor Gericht. Dabei widersprach er erneut den Vorwürfen gegen sich und sah seine erfolgreiche Karriere durch die Dieselaffäre beschädigt. Ein Unfall Winterkorns unterbrach den Prozess aber nach nur wenigen Tagen. Ob und wann das Verfahren fortgesetzt werden kann, ist völlig offen.