Vater gegen Sohn und Tochter vor Gericht, die Mutter und weiteren Geschwister im Zeugenstand: Es gibt wohl kaum eine unangenehmere Situation für Eltern und Kinder als jene, die die norwegische Familie Ingebrigtsen gerade durchmacht. Der Weltklasseläufer Jakob Ingebrigtsen (24) und eine jüngere Schwester (19) von ihm werfen ihrem Vater Gjert (59) vor, in Kindheits- und Jugendtagen gewalttätig gegen sie geworden zu sein.
Nach dem öffentlich ausgetragenen Familienzerwürfnis wird nun am Montag (16. Juni) ein Urteil in dem Fall erwartet. Muss Gjert Ingebrigtsen im Anschluss ins Gefängnis? Ihm drohen laut norwegischer Rechtssprechung jedenfalls mehrere Jahre Haft: Die Staatsanwaltschaft hat zweieinhalb Jahre Gefängnis gefordert, die Verteidigung dagegen Freispruch.
Über Wochen hat der Fall im Norden hohe Wellen geschlagen. Prominenter könnten die Akteure dabei für norwegische Verhältnisse kaum sein: Die Familie Ingebrigtsen zählt zu den bekanntesten von ganz Norwegen, der derzeit verletzte Jakob Ingebrigtsen selbst als Olympiasieger von Tokio (1.500 Meter) und Paris (5.000 Meter) sowie mehrfacher Weltmeister und Weltrekordler zu den berühmtesten Sportlern des Landes.
Bruch mit dem Vater
Entsprechendes Aufsehen erregte ein Meinungsbeitrag, den der Laufstar im Herbst 2023 zusammen mit seinen Brüdern Filip und Henrik in der Zeitung «Verdens Gang» veröffentlichte. Darin berichteten die Laufbrüder von einer Kindheit, die von physischer Gewalt und Drohungen ihres Vaters und langjährigen Trainers geprägt gewesen sei.
Daraufhin wurden Ermittlungen gegen Gjert Ingebrigtsen wegen möglicher Misshandlung eingeleitet, die zunächst zur Anklage wegen seines Vorgehens gegen seine Tochter führten. Ende 2024 wurde diese Anklage dann auch auf sein Verhalten gegenüber Jakob Ingebrigtsen ausgeweitet. In diesem Frühjahr folgte schließlich der wochenlange Gerichtsprozess, in dem ein Familienmitglied nach dem anderen vor dem Amtsgericht Sør-Rogaland in Sandnes bei Stavanger Stellung bezog.
«Nicht alle Kinder können wie ich vor ihren Problemen davonlaufen»
Jakob Ingebrigtsen ging es in dem Verfahren nach eigenen Angaben darum, die Geschichte der Geschwister zu erzählen, aber auch um ein viel größeres Thema: den Schutz von Kindern vor familiärer Gewalt.
«Meine Geschwister und ich werden nun im Leben weitergehen, unabhängig vom Ausgang des Prozesses. Viele Kinder können das nicht», schrieb der 24-Jährige zum Prozessende in einem weiteren Beitrag in «Verdens Gang», den er auch vor Gericht verlas. «Sie leben ihre Leben in Angst. Vergesst sie nicht, wenn die Kameras im Amtsgericht in Sandnes ausgegangen sind.» Er schloss sein Plädoyer für mehr Aufmerksamkeit für diese Kinder mit den Worten: «Nicht alle von ihnen können vor ihren Problemen davonlaufen, so wie ich es getan habe.»
Gjert Ingebrigtsen beteuert Unschuld – und seine Frau springt ihm bei
Der siebenfache Familienvater Gjert Ingebrigtsen hat die Vorwürfe vor und während des Verfahrens stets zurückgewiesen. Vor Gericht sagte er aus, immer nur die besten Absichten gehabt zu haben. «Ich habe niemals Gewalt gegen meine Kinder ausgeübt», beteuerte er schon 2023. Er sei zwar alles andere als perfekt als Vater und Ehemann gewesen, aber niemals gewalttätig.
Der Großteil seiner Kinder ist da anderer Ansicht. Neben Jakob und seiner jüngeren Schwester sagten drei weitere der Geschwister aus, in einem Regime der Angst aufgewachsen zu sein. Ihre Mutter Tone soll Gjert Ingebrigtsen dagegen im Zeugenstand zur Seite gesprungen und Abstand von den fünf Kindern genommen haben, die ihm Vorwürfe machten: In einem Haus mit sieben Kindern habe es Regeln gegeben, aber keine Gewalt, weder physisch noch psychisch, sagte sie nach Angaben eines Anwalts ihres Mannes aus. Sie wollte sich dabei nur hinter verschlossenen Türen und unter Ausschluss der Medien äußern.
Trainer der Laufbrüder ist Vater Gjert übrigens schon seit 2022 nicht mehr. Stattdessen betreut er seit längerem unter anderem den Mittelstreckenläufer Narve Gilje Nordås. In dem Zuge zeigte sich der 59-Jährige zuletzt bei einem Wettkampf seines Schützlings in Bergen erstmals wieder öffentlich in einem Leichtathletik-Stadion. Gegenüber norwegischen Reportern plauderte er minutenlang über diverse Themen – verließ die Journalistenschar aber prompt und wortlos, als er auf die Urteilsverkündung am 16. Juni angesprochen wurde.