Vom Marktplatz in Halle mit dem Denkmal des berühmten Komponisten Georg Friedrich Händel ist es nicht weit zu einer anderen Legende. Gleich um die Ecke liegt das Sportgeschäft des Marathon-Olympiasiegers von 1976 und 1980. Inhaber Waldemar Cierpinski ist im Osten Deutschlands bis heute überaus populär. An diesem Sonntag – dem Schlusstag der deutschen Leichtathletik-Meisterschaften in Dresden – wird er 75 Jahre alt.

Dann wird der Mann, der auf immer mit den Worten einer TV-Reportage verbunden bleibt, in der Nähe des böhmischen Kurortes Marienbad sein und sich mit ein paar Kumpels auf eine Radtour begeben. Groß gefeiert wird dann am 6. September: Seine Ehefrau ist in diesem Frühjahr schon 75 geworden, der älteste Sohn wird 50, dann gibt es eine Fete zum insgesamt 200. Geburtstag.

Heutzutage nur noch Fußball

250.000 Kilometer ist Cierpinski nach eigenen Angaben in seinem Leben gelaufen. Genug ist das, findet er, und spielt heute nur noch Fußball – eine Leidenschaft, von der er auch zu seinen besten Zeiten nie lassen konnte. Der Mann mit dem schütteren Haar ist im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur so, wie ihn die Menschen schätzen: nahbar, bodenständig, bescheiden und auch witzig, dabei aber nicht ohne klare Meinung. Und natürlich trägt er ein Paar Laufschuhe.

Unweigerlich kommt zwischen den Regalen voller aktueller Modelle auch die Rede auf den 2023 gestorbenen DDR-Fernsehreporter Heinz Florian Oertel. Er begleitete den Zieleinlauf von Cierpinski 1980 bei Olympia in Moskau mit den Worten: «Liebe junge Väter oder angehende – haben Sie Mut! Nennen Sie Ihre Neuankömmlinge des heutigen Tages ruhig Waldemar! Waldemar ist da!»

Oertels Reportage ist allgegenwärtig

Das fand der damalige Sieger gar nicht so passend und sagte das «meinem Freund Flori» auch. Doch angesichts der folgenden Fanpost-Flut merkte Cierpinski, was Oertel ausgelöst hatte und weiß es schon lange zu schätzen. «Das haben sich die Leute gemerkt. Ich werde jeden Tag darauf angesprochen», sagt er. Einige angehenden Eltern hätten Oertels Anregung tatsächlich wörtlich genommen und ihm davon berichtet.

Zu sportlichem Ruhm brachte es Cierpinski bereits 1976. In Montreal bezwang er Frank Shorter, der vier Jahre nach Gold in München erneut Favorit im Marathon war.

Cierpinski erzählt, wie er mitunter bis zu viermal am Tag trainierte und schließlich abends aus dem fünften Stockwerk noch den Papierkorb zum Müll brachte – damit er noch einmal Treppen steigen musste. Daran habe er 1976 im Rennen gedacht, als er eine Lücke zu Shorter zunächst nicht schließen konnte. Und er berichtet auch, wie er sich einst wegen des richtigen Schuhwerks mit dem mächtigsten DDR-Sportfunktionär Manfred Ewald anlegte.

Wertschätzung für Europameister Ringer

Seine Nachfolger verfolgt Cierpinski noch mit Interesse. Den Europameistertitel für Richard Ringer 2022 in München empfand er als Lichtblick, vor einem Jahr in Paris hätten sich die Deutschen beim Olympia-Marathon zufriedenstellend geschlagen. Dort war Ringer auf Rang zwölf bester DLV-Athlet, nachdem Cierpinski als einer von mehreren verdienten Ex-Athleten in einer Videobotschaft zuvor noch Mut gemacht hatte.

«Er hat gesagt, dass man sich was zutrauen sollte», berichtete Ringer nun. Er lief auch bei Olympia ein beherztes Rennen. Dass nur der Äthiopier Abebe Bikila und der Kenianer Eliud Kipchoge außer Cierpinski zweimal Olympiasieger waren, verleiht dessen Worten natürlich Gewicht. «Was zu verteidigen, ist phänomenal», sagte Ringer (36), der nun mitten in der Vorbereitung auf die WM in Tokio Mitte September steckt.

Ringer: Laufe nicht so viel wie der Waldemar

Allerdings verweist er auch auf Unterschiede zur heutigen Zeit. Während Cierpinski auch als Ausgleich gern Fußball spielte, nutzt Ringer unter anderem auch das Fahrrad zum zeitaufwendigen Training. «Es sind viele Stunden. Ich bin nicht einer, der so viel läuft wie der Waldemar», erklärte er und verweist auch auf die damit verbundene Verletzungsgefahr. Cierpinski indes sagt, er habe sich beim Fußball nicht so oft verletzt wie bei Läufen im Wald.

Unterwegs mit Gysi

Termine hat Cierpinski noch immer genug. Sei es als Gast auf Marathonläufen, wo er die Aktiven mit seinen Geschichten und Anekdoten inspiriert. Oder auf gemeinsamen Talkrunden mit Linken-Politiker Gregor Gysi an der Ostsee. In Halle schaut Sohn Falk – früher einer der besten deutschen Marathonläufer – nach dem gerade erst umgebauten Geschäft.

Ihn trainierte Cierpinski einst. Leidenschaftlich fordert er eine bessere Bezahlung für Trainer hierzulande. Sie sollten nicht noch schauen müssen, wo sie Mittel herbekommen könnten «Es ist eine Schande für Deutschland», sagt Cierpinski.

Lauf unter zwei Stunden nicht so wichtig

Vor 49 Jahren in Montreal gewann er in 2:09:55 Stunden sein erstes Gold, in Moskau in 2:11:03 Stunden sein zweites. Nun fehlen auch dank großer Fortschritte bei der Schuhtechnologie noch 35 Sekunden zur Zwei-Stunden-Marke bei einem offiziellen Marathon-Rennen.

«Das ist für mich nicht wichtig. Ich bin kein Freund von organisierten Rennen», sagt Cierpinski. Tempomacher würden auch viel Arbeit für den Kopf abnehmen. Für ihn sind auch die 42,195 Kilometer «ein Wettkampf Mann gegen Mann» – so wie 1980 gegen den zweitplatzierten Niederländer Gerard Nijboer oder vier Jahre zuvor gegen Frank Shorter.

Doping-Verdächtigungen empfindet er als nicht fair

Der spätere Chef der US-Anti-Doping-Agentur war nach der deutschen Vereinigung und der Ansicht von Unterlagen zum staatlich gesteuerten Doping in der DDR überzeugt, dass Cierpinski ihn mit unlauteren Mitteln besiegt habe.

Das weist dieser zurück mit dem Hinweis, dass ihm als Ausdauersportler die Einnahme von Muskeln aufbauenden Anabolika überhaupt nichts genützt hätte. «Die Dinge sind falsch interpretiert worden», sagt er. Die Beschuldigungen während des Zusammenwachsens des wiedervereinigten Deutschlands empfindet er – auch mit Verweis auf Doping im Westen – nach wie vor als unfair, einseitig und nicht gerechtfertigt. Shorter habe ihm zudem zu einem sauberen Sieg gratuliert.