Als die Europa League noch UEFA-Cup hieß, verspottete Franz Beckenbauer den Wettbewerb einst als «Cup der Verlierer». Schaut man sich die Finalpaarung in diesem Jahr an, dann passt die Bezeichnung ziemlich gut. Tottenham Hotspur trifft auf Manchester United, der Tabellen-17. der Premier League auf den Tabellen-16. Für beide Clubs ist das Endspiel in Bilbao die letzte Chance, eine völlig verkorkste Saison versöhnlich abzuschließen.

Daran erinnert auch Bundesliga-Torschützenkönig Harry Kane, der seinen Spurs den Titel wünscht. «Es ist eine schwierige Saison für sie aus vielen Gründen gewesen, aber sie haben die Chance, eine der besten Saisons in der jüngeren Geschichte zu erreichen», sagte Kane der BBC und ergänzte mit Blick auf seine titellosen Jahre in Tottenham: «In meiner Zeit hatten wir einige gute Momente, aber wir haben den Job nie zu Ende gebracht. Sie haben jetzt die Chance. Was für eine Möglichkeit.»

Amorim will Europa-Triumph gegen Liga-Frust

Zumal der Europa-League-Titel auch gleichbedeutend mit der Qualifikation für die Champions League ist. «Es ist sehr wichtig für uns, ein Riesending, und wir wollen unseren Fans unbedingt den Titel schenken», sagte Man-United-Coach Ruben Amorim auf der Vereinswebsite des Europa-League-Gewinners von 2017. «Ich habe gemischte Gefühle. Ich freue mich sehr, aber gleichzeitig bin ich mir meiner Verantwortung als Manchester-United-Trainer bewusst.»

Für den Portugiesen, der sein Amt im November 2024 übernommen hatte, verlief die erste Saison in Manchester nämlich desaströs. Amorim hatte den schlechtesten Start eines United-Trainers seit über 100 Jahren zu verantworten. Teile der Fans verloren die Geduld mit ihm. «Der Frust über die Saison ist immer noch da», gab der Coach zu, «deshalb will ich umso mehr mit dem Team das Finale gewinnen.»

Letzter Strohhalm für Spurs-Coach Postecoglou

Während man Amorim bei Man United noch zugutehalten kann, dass er die Mannschaft erst ein paar Monate nach Saisonbeginn übernommen hat, ist der Kredit von Coach Ange Postecoglou bei den Tottenham-Fans nach fast zwei Jahren aufgebraucht. Der Australier, der gern betont, bei seinen bisherigen Clubs in der zweiten Saison immer etwas gewonnen zu haben, könnte seinen Job vermutlich nur noch damit retten.

Allerdings scheiterten schon Trophäensammler wie José Mourinho oder Antonio Conte daran, mit den Spurs Silberware holen zu wollen. Der Club wird auf der Insel als chronisch titellos belächelt. Den letzten großen Erfolg gab es 1991 im FA Cup. Selbst der Gewinn des unbedeutenden Ligapokals ist 17 Jahre her. Einen Triumph in der Europa League würde man in Tottenham wie die Meisterschaft feiern.

Gewinner spielt nächste Saison in der Königsklasse

Neben der Aufbesserung von Image und Selbstbewusstsein bringt der Gewinn der Europa League ein Preisgeld in zweistelliger Millionenhöhe und – das ist noch wichtiger – einen Startplatz in der viel lukrativeren Königsklasse in der nächsten Saison. Die Qualifikation für die Champions League über die Liga haben Man United und Tottenham meilenweit verfehlt.

Wenn man sagt, dass sie ihren Ansprüchen nicht gerecht wurden, ist das milde ausgedrückt. 39 respektive 38 Punkte nach 37 Spieltagen kommen einer Blamage gleich, auch wenn beide viel Verletzungspech hatten. Man United hat 18 Partien verloren, die Spurs sogar 21. Dass die beiden Tabellennachbarn niemals ernsthaft in Abstiegsgefahr gerieten, liegt allein daran, dass die drei Aufsteiger – jetzt allesamt Absteiger – nicht konkurrenzfähig waren.

Der Karriere-Traum von Heung-Min Son

Kane, der gerade mit dem FC Bayern den ersten Titel seiner Karriere feierte, drückt seinem Ex-Club aus der Ferne die Daumen. Der Torjäger war dabei, als die Spurs 2019 das Champions-League-Finale gegen den FC Liverpool (0:2) verloren. Sein damaliger Teamkollege und Nachfolger als Tottenham-Kapitän, Heung-Min Son, hat die Niederlage nie verwunden. «Ich glaube nicht, dass es mir gelingt, diese Enttäuschung jemals zu vergessen», gestand der ehemalige HSV-Profi im Interview auf der UEFA-Website.

Der 33-Jährige hofft, dass er die Titelsehnsucht seiner Spurs – manche sprechen von einem Fluch – in Bilbao endlich beenden kann. «Ich habe in meinen zehn Jahren bei Tottenham alles erreicht, bis auf eine Sache», sagte er. «Ich habe immer hart dafür gearbeitet und davon geträumt, einen Titel mit Tottenham zu gewinnen. Ich hoffe wirklich, dass dieser Traum Realität wird.»

Tottenham Sieger der letzten Duelle

Manchester United wird im San-Mamés-Stadion von Bilbao wegen der eigenen Historie leicht favorisiert. Die Bilanz in der laufenden Saison spricht hingegen eher für Tottenham. Die Londoner gewannen beide Premier-League-Duelle (1:0, 3:0) und schmissen United aus dem Ligapokal (4:3). Alles scheint möglich.

Übrigens: Franz Beckenbauer gewann den UEFA-Cup 1996 als Interimscoach mit dem FC Bayern. Seine Meinung über den Wettbewerb änderte er allerdings nicht. In Manchester und London dürfte der «Verlierer-Cup» dieser Tage einen deutlich höheren Stellwert genießen als seinerzeit in München.