Der Anscheinsbeweis besagt, dass der von hinten kommende Autofahrer bei einem Auffahrunfall voll haftet. Doch dabei kommt es auf den jeweiligen Einzelfall an, etwa auf eine unübersichtliche Verkehrssituation oder ein Fehlverhalten des Vorausfahrenden. 

Das zeigt ein Fall, der vor dem Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main verhandelt wurde. Es ging um eine Situation, wie sie täglich auf Autobahnen vorkommen dürfte, wenn sich vor einer Baustelle der Verkehr zu stauen beginnt und mancher Autofahrer noch hektisch in die vermeintlich bessere Spur wechseln will. Über das Urteil (Az.: 9 U 5/24) berichtet der ADAC. 

Was war passiert?

Ein Mann fuhr mit seinem Auto auf der linken von drei Spuren. Wegen einer Baustelle verengte sich die Fahrbahn auf zwei Spuren, der Mann wollte von der linken auf die mittlere Spur wechseln. Er zog rüber, merkte, dass der Platz nicht ausreichte – und zog wieder zurück nach links. Auf dieser Spur jedoch bremste sein Vordermann bis zum Stillstand ab. Das tat auch der Spur(rück)wechsler – und rumms! Ihm krachte sein Hintermann ins Heck, da dieser nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte.

Im Nachgang verlangte der Spurwechsler vollen Schadensatz vom Auffahrenden. Er begründete das mit dem Anscheinsbeweis, der dafür spräche, dass der Hintermann nicht aufgepasst habe. Dessen Versicherung wiederum brachte eine Teilschuld des Vordermanns ins Spiel. Es ging vor Gericht.

Ein normaler Auffahrunfall – oder nicht?

Das OLG verteilte die Unfallschuld zu gleichen Teilen. Dem Gericht zufolge greift tatsächlich zunächst generell der Anscheinsbeweis bei einem normalen Auffahrunfall. Doch es verwies auf einige Besonderheiten dieses Falls.

Einerseits hatte die Baustellensituation den Verkehrsfluss unübersichtlich gemacht. Andererseits hatte der spätere Kläger zunächst selbst versucht, die Spur zu wechseln. Dieses Manöver hatte er dann – schon halb in der anderen Spur – abgebrochen, und zwar abrupt und wohl ohne den Blinker zu setzen. Außerdem hatte auch noch der Vorausfahrende voll gebremst, womit dem Gericht zufolge ebenfalls nicht ohne Weiteres zu rechnen gewesen war. 

All das sprach nicht für einen normalen Auffahrunfall – hier griff der Anscheinsbeweis demnach nicht. Am Ende entschied das Gericht: Aufgrund der Fahrweise des Spurwechslers sei es angemessen, die Haftung zu teilen. Denn der hintere Fahrer, der nicht mehr bremsen konnte, war auch nicht frei von Schuld – er hatte vermutlich zu wenig Abstand gehalten.