In den Tagen vor seiner Jahrhundert-Entdeckung scheint im Arbeitsleben des Howard Carter alles seinen gewöhnlichen Gang zu nehmen. «Kairo in Richtung Luxor verlassen», notiert der britische Archäologe am 27. Oktober 1922 knapp in seinem Tagebuch. Auf dem Weg nach Oberägypten tragen Esel sein Gepäck.
Aber bald darauf, am 4. November 1922, beginnt im Tal der Könige der Sensationsfund, der ihn berühmt machen wird: «Erste Stufen von Grab entdeckt», schreibt Carter mit nur fünf Worten, als im Staub die ersten Anzeichen dessen sichtbar werden, was sich herausstellen soll als Grab des Pharaos Tutanchamun. Die Entdeckung vor 100 Jahren gilt als Meilenstein der Archäologie und als der wohl berühmteste Fund aus der alt-ägyptischen Hochkultur.
Grabräuber hatten Schätze übersehen
Im Kerzenschein offenbart sich etwa drei Wochen später schließlich die Grabkammer mit all ihren Schätzen: «Die heiße Luft ließ die Kerze flackern», schreibt Carter, «aber sobald die Augen sich an den Lichtschimmer gewöhnten, zeichnete sich das Innere der Kammer allmählich vor einem ab, ein seltsames und herrliches Gemisch außerordentlicher und wunderschöner übereinander gehäufter Objekte.» Das Grab mit Kennziffer KV62 war spektakulär, weil weitgehend intakt. Die Schätze waren verschüttet und Grabräubern deshalb entgangen.
Von Glück kann die Archäologie heute sprechen, dass Lord Carnarvon, Carters Geldgeber und derjenige, der von der ägyptischen Regierung die Ausgrabungsrechte erworben hatte, nicht vorher die Geduld ausging. Denn Schatzsucher und Archäologen hatten seit Jahrzehnten im Tal der Könige gebuddelt, und in den Jahren vor der großen Entdeckung reifte die Ansicht, dass die Gegend langsam abgegrast sei. Im Juni 1922 musste Carter bei Carnarvon vorsprechen und die Mittel für eine letzte Ausgrabungssaison erbetteln.
100 Jahre später ist der Rummel um den Kindskönig, der wohl bekannteste der etwa 170 Pharaonen aus der ägyptischen Antike, ungebrochen. Eine US-Wanderausstellung seiner Artefakte in den 1970er Jahren zog mehr als acht Millionen Besucher an. In Paris besuchten 2019 rund 1,4 Millionen Menschen eine Tutanchamun-Schau – bis heute die meistbesuchte Ausstellung in Frankreich überhaupt. Auch im Großen Ägyptischen Museum (GEM), das voraussichtlich 2023 nahe den Pyramiden von Giseh öffnen soll, ist «King Tut» der Star.
Abkehr von radikalen religiösen Reformen
Im Alter von neun Jahren bestieg Tutanchamun 1332 vor Christus – also vor rund 3300 Jahren – den ägyptischen Thron als einer der letzten Könige der 18. Dynastie. Seine größte Leistung, ehe er nach neun oder zehn Jahren unerwartet starb, war Experten zufolge die Abkehr von radikalen religiösen Reformen seines Vaters Echnaton, die das Land destabilisiert hatten. Tut-anch-amun bedeutet wörtlich «Lebendes Abbild Amuns» (Amun gilt als König der antiken Götter).
Die Begeisterung reißt auch deshalb nicht ab, weil viele Details, wie auch die Frage nach möglichen weiteren Grabkammern, bis heute nicht endgültig geklärt sind. DNA-Analysen zeigten zum Beispiel, dass der Pharao wohl an Malaria erkrankte und an der Knochenkrankheit Morbus Köhler litt, möglicherweise als Kind einer Inzest-Ehe.
Mit diesen Erkenntnissen schien die verbreitete Theorie widerlegt, Tutanchamun sei ermordet worden. Was aber, wie der US-Ägyptologe Bob Brier nach umfänglichen Recherchen mutmaßt, wenn der Kindskönig gar kein gebrechlicher und kränkelnder Jugendlicher war, sondern ein Krieger? Im Grab wurde zum Beispiel eine Lederrüstung gefunden, die möglicherweise auch im Kampf zum Einsatz gekommen war.
Mehr als 5000 Artefakte
Vielleicht bleiben einige Fragen für immer unbeantwortet, wie auch die, ob der Archäologe Carter sich an den Schätzen bereicherte. Den Andrang in Ausstellungen zum Pharao dürfte das kaum stoppen. Im GEM in Giseh sollen bald 4700 der mehr als 5000 Artefakte zu sehen sein, die nahe Tutanchamuns Mumie gefunden wurden: Kleidung, Spiele, Juwelen, Waffen, Möbelstücke, Kosmetik und mehr.
Die Historikerin Christina Riggs beschreibt, dass Tutanchamun eine noch viel größere Rolle spielte: als Kulturbotschafter, Finanzquelle für die ägyptische Regierung und Diener verdeckter Staatskunst. Seine Artefakte – und in welchen Ländern sie im jeweiligen politischen Kontext ausgestellt wurden – sind laut Riggs eine Form weicher Macht und Einflussnahme, die Besucher nur selten durchschauen.
Die goldenen Schätze kann man hinter Glasvitrinen aber auch einfach bestaunen. So wie Carter bei einer Kammer-Begehung auf die Frage antwortete, ob er schon etwas sehen könne: «Ja, es ist wundervoll.»