Chor, Orchester, Hunderte Menschen auf der Bühne, dazu Pferde, Schafe und Kamele: Als monumentales Schauspiel bringen die Oberammergauer ihrem jahrhundertealten Pestgelübde folgend das Passionsspiel auf die Bühne.
Am Samstag ist Premiere – endlich. Schon 2020 hätte es die Passion geben sollen, da kam Corona dazwischen. Spielleiter Christian Stückl verschob um zwei Jahre.
Rund 2100 Einheimische wirken mit
Seitdem hat sich die Welt verändert. Biblische Themen haben mit Wucht aktuelle Brisanz bekommen. Flucht und Vertreibung, Krieg und Armut: Energisch und stark soll Jesus auftreten. Einen sanften Christus kann Stückl in diesen Zeit nicht brauchen. «Jesus war immer an den Grenzen der Gesellschaft. Er ist bei den Armen, bei den Flüchtlingen.» Aber auch: «Er ist verzweifelt manchmal an dieser Welt.»
Täglich wird geprobt. Zuletzt ratterten in der Schneiderei noch einmal die Nähmaschinen, weil 30 Gewänder fehlten. Nach der Corona-Pause hatten die Schneiderinnen manches Gewand anpassen müssen. Vor allem Jugendliche waren teils herausgewachsen.
Rund 75 Prozent der Tickets für die 100 Vorstellungen bis 2. Oktober sind verkauft, aus Übersee hatten manche ihre Karten wegen des Krieges in der Ukraine zurückgegeben. «Wir wissen heute nicht wirklich, wie viele Menschen uns in diesem Jahr besuchen, wir wissen nicht, ob sich der schreckliche Krieg in der Ukraine ausweiten wird, wir wissen nicht, was Corona macht, ob es eine weitere Welle geben wird, aber wir haben unendliche Lust, unser Passionsspiel auf die Bühne zu bringen, und sind hochmotiviert», sagt Stückl.
Rund 2100 Einheimische, damit über ein Drittel der 5200 Einwohner, wirken an der Aufführung mit. Etwa 300, die 2020 dabei sein wollten, sagten ab. Nicht jeder kann ein halbes Jahr freischaufeln. Die Aufführung ist mit fünf Stunden plus dreistündiger Pause tagesfüllend.
Eröffnet werden die Passionsspiele am Samstag mit einem ökumenischen Gottesdienst von dem Münchner Erzbischof Kardinal Reinhard Marx und dem evangelischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm.
Im Klettergurt am Holzkreuz
«Es ist praktisch alles fertig», sagt Frederik Mayet, Pressesprecher der Passion, der zum zweiten Mal den Jesus gibt. Das Los hat entschieden, dass er – auch zum zweiten Mal – die Premiere spielt. Alle 20 Hauptrollen sind doppelt besetzt. Mehrere Probe-Kreuzigungen haben Mayet und sein Jesus-Kollege Rochus Rückel schon überstanden. Im Klettergurt hängen sie dabei am Holzkreuz, die Füße auf Brettchen.
Stärker als früher will Stückl das Wirken Jesu in den Vordergrund rücken. «Wir haben früher die Leidensgeschichte von Jesus erzählt. Aber ganz wichtig ist die Lebensgeschichte. Was wollte er in seinem Leben? Und: Wie passt dieser Jesus in unsere Zeit?»
Dabei geht es dem 60-Jährigen, der die Passion zum vierten Mal inszeniert, nicht vordergründig um konkrete Ereignisse wie den Krieg in der Ukraine, den Klimawandel oder die Corona-Krise. «Wir haben permanent Krieg», sagte er. Die Welt sei seit Jahren in Bewegung.
Kostüm- und Bühnenbildner Stefan Hageneier hat die Bühne zu einer weitläufigen Tempelanlage umgebaut. Dieses politische und religiöse Zentrum Jerusalems bildet den Spielort während des gesamten Stücks. Es beginnt mit Schlüsselszenen aus dem Alten und Neuen Testament: die Vertreibung aus dem Paradies, dann der Einzug Jesu in Jerusalem.
Jesus reitet auf einem echten Esel
Neu gestaltet ist auch die Musik unter Leitung von Markus Zwink. Orchester und Chor – zusammen rund 120 Menschen – sollen fließend überleiten zwischen den Szenen aus dem Leben Jesu und den lebenden Bildern als Rückblenden auf das Alte Testament.
Dabei wird auch der Bogen zur Entstehung der Passion geschlagen: Die Chormitglieder tragen Kleider, die aus der Zeit von 1634 stammen könnten. Damals hatten die Oberammergauer, heimgesucht von der Pest, gelobt, alle zehn Jahre die Passion aufzuführen.
Stückl hat die Bibel zum Theaterstück geformt und das Laienspiel modernisiert. Er hat Frauenrollen mehr Gewicht gegeben und das Spiel von christlichen Anti-Judaismen befreit. Dafür bekam er Preise. Er stellt klar: Jesus war Jude, es geht um einen innerjüdischen Konflikt – nicht «die» Juden ließen Jesus ans Kreuz schlagen
Trotz aller Erneuerung: Vieles bleibt traditionell. Die Kostüme sind historisch nachempfunden, Jesus reitet auf einem echten Esel namens Aramis, wallende Haare und Bärte prägen das Bild im Ort. Alle Mitspieler bis auf Engel und Römer mussten die Haare wachsen lassen – obwohl nicht belegt ist, ob vor 2000 Jahren wirklich lange Haare und Bärte Mode waren. Wegen Corona hatte Stückl allerdings das Rasierverbot gelockert – mit Bart sitzt die FFP2-Maske nicht so gut.
Zwei Hauptrollen mit Muslimen besetzt
Die Sorgen, dass die Passionsspiele noch durch Corona beeinträchtigt werden könnten, schwinden. Er sei froh, dass es für das Publikum keine Beschränkungen gebe, sagt Stückl. Sollten beide Jesus-Darsteller oder beide Marien-Darstellerinnen krank werden, müsse eben mal eine Vorstellung ausfallen, sagt Stückl. Bei manchen Rollen könne er einspringen – wie er es als Intendant am Münchner Volkstheater manchmal tut. Aber: «Maria, den Engel, Johannes oder gar Jesus werde ich nicht spielen.»
Erstmals übernehmen zwei Oberammergauer muslimischen Glaubens Hauptrollen. Für den Theatermann Stückl zählt – das hat er stets betont – nicht die Religion, sondern das schauspielerische Talent.
Mehrere hundert Kinder spielen mit – und viele Senioren um die 80, darunter Stückls Vater, der den Hohepriester Annas gibt. Die älteste Mitspielerin geht auf die 100 zu – und manche haben zehn Passionen mitgemacht, von Kindesbeinen an bis ins hohe Alter. Die Passion: Das ist für viele Oberammergauer eine Passion.
Die 42. Passionsspiele werden vom 14. Mai bis 02. Oktober 2022 aufgeführt.