Wegen ihrer fruchtbaren Böden ist die Ukraine einer der wichtigsten Weizenexporteure weltweit. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Nariman El-Mofty/AP/dpa)

Eigentlich dachte er, es könne nicht schlimmer kommen: Der Klimawandel mit verheerenden Dürren sowie Versorgungsengpässe durch die Pandemie drohten bereits im vergangenen Jahr Millionen Menschen in Hunger zu stürzen.

David Beasley, der Chef des UN-Welternährungsprogramms, warnte vor der größten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Doch jetzt, sagt er auf der Jahrestagung des Weltwirtschaftsforums, sei es noch schlimmer gekommen. Denn mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine fällt die Kornkammer der Welt aus.

Weltmarktpreise etwa für Weizen stark gestiegen

Experten und Politiker warnen vor einer globalen Nahrungsmittelkrise, vor Hunger in vielen Teilen der Welt. Seit Beginn des Krieges sind die Weltmarktpreise etwa für Weizen stark gestiegen. Das an sich wäre schon Problem genug, doch Lebensmittel würden auch knapp, sagt Beasley voraus. Schon vor dem Krieg standen Schätzungen zufolge 44 Millionen Menschen in 38 Ländern am Rand einer Hungersnot. Jetzt könnten bis Jahresende weitere 40 Millionen dazukommen.

Beim Weltwirtschaftsforum in Davos ist diese humanitäre Katastrophe in aller Munde. Lösungen gebe es bisher nicht, sagt Beasley, der in das Schweizer Alpendorf gekommen ist, um den Reichen der Welt den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Stattdessen lobbyieren Ukrainer mit dem Thema für mehr Unterstützung im Kampf gegen die russische Armee.

Moskau: «Sind wir nicht die Ursache des Problems»

Der Kreml hingegen wirft dem Westen vor, die Krise mit seinen Sanktionen selbst hervorgerufen zu haben. Russland hindere die Ukraine nicht daran, Getreide etwa mit der Bahn in Richtung Polen auszufahren, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. «Und was den Transport auf dem Seeweg betrifft, so sind wir nicht die Ursache des Problems.» Die Ursache seien «diejenigen, die Sanktionen gegen uns verhängt haben, und die Sanktionen selbst, die wirken». Am Mittwoch zeigte sich Vize-Außenminister Andrej Rudenko gesprächsbereit. Laut der Agentur Interfax forderte er zwar eine Aufhebung der Strafmaßnahmen. Zudem müsse die Ukraine alle Häfen entminen. Dann sei Russland aber bereit, eine «humanitäre Durchfahrt» zu sichern.

Die Deutsche Bahn kündigte an, die Ukraine stärker beim Getreideexport unterstützen zu wollen. Man werde in Abstimmung mit dem Bund weitere Aufträge und Zugfahrten organisieren, sagte DB-Cargo-Chefin Sigrid Nikutta dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Donnerstag). Zurzeit fahre DB Cargo mit Tochtergesellschaften in Polen und Rumänien mehrere Züge täglich mit Getreide an verschiedene Seehäfen. «Nun geht es darum, diese Agrarexporte auszuweiten. Ziel sind tragfähige Verbindungen bis an die Seehäfen der Nordsee und des Schwarz- und Mittelmeeres.»

Wegen ihrer fruchtbaren Böden ist die Ukraine einer der wichtigsten Weizenexporteure weltweit. Hinzukommen hohe Weltmarktanteile bei Gerste, Mais und Sonnenblumenöl. UN-Angaben zufolge wurden 2020 allein gut 30 Millionen Tonnen Mais und knapp 25 Millionen Tonnen Weizen geerntet. Zusammen produzieren die Ukraine und Russland einer Studie zufolge 12 Prozent der weltweit gehandelten Kalorien.

Ein Großteil davon droht nun auszufallen. Denn viel ukrainisches Getreide wird über die Schwarzmeerhäfen verschifft. Weizen ging von dort im vergangenen Jahr etwa nach Ägypten, Tunesien und Marokko, nach Äthiopien, in den Jemen und den Libanon, nach Indonesien, Pakistan und Bangladesch. Diese Häfen, allen voran Odessa, werden jetzt von den russischen Streitkräften blockiert. Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte in Davos Verhandlungen über einen Korridor und die Freigabe für den Export.

«Russische Truppen bombardieren ukrainische Felder»

Rund 20 Millionen Tonnen Getreide aus der vergangenen Ernte könnten derzeit nicht verschifft werden, sagt die frühere ukrainische Finanzministerin Natalie Jaresko. Die Ukrainer hätten keinen Platz mehr in ihren Silos. Die neue Ernte drohe zu verrotten. Letztlich aber werde die Krise die ganze Welt treffen: Nahrungsmittelknappheit werde in vielen Ländern zu Unruhen führen.

Mehrere europäische Politiker werfen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vor, den Hunger gezielt als Kriegswaffe einzusetzen. «Russische Truppen bombardieren ukrainische Felder, verhindern die Aussaat, plündern Lebensmittelvorräte, blockieren ukrainische Häfen und erhöhen so die Preise für Lebensmittel und Düngemittel», sagte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell. Außenministerin Annalena Baerbock betonte: «Russland führt seinen brutalen Krieg nicht nur mit Panzern, Raketen und Bomben. Russland führt diesen Krieg mit einer anderen schrecklichen und leiseren Waffe: Hunger und Entbehrung.»

Beasley zufolge könnte allein die Ukraine mit ihrem Getreide 400 Millionen Menschen versorgen. Das wäre gerade besonders wichtig, denn auch andere Kornkammern der Welt fallen aus. In China, dem größten Weizenproduzenten, haben starke Regenfälle die Aussaat verzögert. Jetzt kommen Corona-Lockdowns dazu. In Indien herrscht eine Hitzewelle. Im amerikanischen Korngürtel hat es zu wenig geregnet. Auch in Vietnam mache der Klimawandel durch steigende Meeresspiegel Probleme, sagt Vizeregierungschef Le Minh Khai.

Dass andere Regionen der Welt einspringen, ist wenig wahrscheinlich – auch weil Landwirtschaft angesichts steigender Düngemittel- und Energiepreise immer weniger profitabel wird. In vielen afrikanischen Ländern können sich Landwirte die dort so wichtigen Düngemittel nicht mehr leisten, was ihren Ertrag schmerzhaft verringert.

Die Klima- und Umweltministerin der Vereinigten Arabischen Emirate, Mariam Mohammed Saeed Al Mheiri, rief in Davos zu mehr internationaler Zusammenarbeit auf. Länder wie Indonesien hatten mit Exportverboten für Speiseöl auf die gestiegenen Preise reagiert – haben das aber inzwischen zurückgenommen.

«Lasst es uns außerdem mit weniger Fleisch probieren», schlug Al Mheiri vor. Denn große Teile des angebauten Getreides wird als Tierfutter genutzt. Ebenfalls im Gespräch: Die Flächen anders nutzen, auf denen derzeit Getreide für Biosprit angebaut wird.

Von Theresa Münch, dpa und Marco Engemann, dpa-AFX

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