Der bitter enttäuschte Neymar war mit seiner Trauer ganz alleine, Luka Modric ließ seine Kinder mit Kroatien-Trikots um sich herumtanzen: Die Gefühlswelten hätten nach Brasiliens überraschendem und dramatischem K.o. bei der WM in Katar unterschiedlicher nicht sein können.
Der klare Topfavorit hat sich wieder einmal im Viertelfinale verabschiedet und muss nach einer packenden 2:4-Niederlage im Elfmeterschießen vorzeitig nach Hause reisen.
Für Neymar, dessen Geniestreich in der Verlängerung nicht genug war, könnte es schon die letzte echte Chance auf den goldenen WM-Pokal gewesen sein. Konkret wollte er sich dazu in den Katakomben nicht äußern. «Es ist sehr früh, um darüber zu sprechen. Ich schließe die Tür zur Seleção nicht. Aber ich garantiere auch nicht zu 100 Prozent, dass ich zurückkehren werde», sagte Neymar. Er werde «analysieren und ein bisschen darüber nachdenken müssen über alles, was gut für mich ist, was gut für die Seleção ist».
Casemiro: «Es ist uns entglitten»
Die Niederlage gegen Kroatien schien vermeidbar. «Wir hatten es in der Hand und es ist uns entglitten», sagte Führungsspieler Casemiro nach der Niederlage, bei der Kroatiens Dominik Livakovic wie schon im Achtelfinale gegen Japan zum großen Helden wurde. Zwar hielt Livakovic diesmal nur einen Elfmeter, doch entschärfte er schon in den 120 Minuten davor zahlreiche Großchancen. «Wir sind Kämpfer, wir haben unser ganzes Herz gegeben. Wir sind total glücklich», sagte der Torhüter, der im Education City Stadion in Al-Rajjan zum Spieler des Spiels wurde. Im Halbfinale am kommenden Dienstag treffen die Kroaten auf Argentinien, das sich mit 4:3 im Elfmeterschießen gegen die Niederlande durchsetzte.
Brasilien hingegen ist in tiefer Fußball-Trauer, die angestrebte «Hexa» wird mindestens vier weitere Jahre warten müssen. «Wir sind traurig, wir stehen wieder auf und schauen nach vorne. Ich bin wirklich sehr stolz auf alle, aber leider haben wir verloren», sagte Kapitän Thiago Silva in einer ersten Reaktion. Als Marquinhos den vierten und damit entscheidenden Elfmeter an den Pfosten setzte, sank der abgesehen vom Tor schwache Neymar direkt im Mittelkreis auf den Rasen. Später erhielt der Paris-Profi Trost vom Söhnchen von Ivan Perisic.
Dalic: «Wir haben einen sehr starken Charakter»
Der 30-jährige Neymar durfte selbst vom Punkt gar nicht mehr antreten, weil das Nervenspiel schon vorher entschieden war. Der ganz späte Treffer von Bruno Petkovic (117. Minute) nach Neymars Führung (105.) war erst der Schlüssel zum Elfmeterschießen, das Kroatien mal wieder einen spektakulären Coup bescherte.
«Das ist einer der größten Siege für unser Land. Wir haben gezeigt, dass wir nicht aufgeben. Wir haben einen sehr starken Charakter», sagte Trainer Zlatko Dalic. Schon 2018, als Kroatien überraschend ins WM-Finale kam und Frankreich unterlag, hatte das Team das Achtel- und das Viertelfinale erst beim Duell vom Punkt überstanden. «Das ist unser zweites WM-Halbfinale in Serie und wir sind ein kleines Land. Ich bin begeistert, wie sie gespielt haben», sagte Dalic mit Blick auf seine Profis.
Kein Superclasico im Halbfinale
Die vor dem Viertelfinale überragenden Brasilianer wurden in dem Moment gestoppt, in dem ganz Südamerika schon von einem Superclasico gegen Argentinien am kommenden Dienstag im Halbfinale träumte. Die Aufbauarbeit wird nun aber ein anderer Trainer leisten müssen, denn der Abschied von Tite nach der WM ist schon seit Monaten beschlossene Sache – ganz unabhängig vom Ausgang der WM.
Ein Jahr nach dem Copa-América-Titel von Lionel Messi und Co. werden die Brasilianer am 18. Dezember schon wieder zusehen müssen, wie eine andere Nation die eigentlich von der Seleção beanspruchte Trophäe in den Nachthimmel von Lusail recken wird. Das Warten geht weiter, mindestens bis zur WM 2026 in den USA, Mexiko und Kanada. Dabei waren neben Neymar in Richarlison, Vinicius Jr. und Raphinha zahlreiche weitere Ballkünstler für die Brasilianer dabei und die Aussichten glänzend.
Modric trumpft als als Taktgeber auf
Der 37 Jahre alte Modric, der mutmaßlich seine letzte WM spielt, wird in Katar zu einer Art Stehaufmännchen. Nach durchwachsener Vorrunde trumpfte er gegen Favorit Brasilien noch einmal auf, hielt im Mittelfeld mächtig dagegen und verwandelte seinen Strafstoß souverän. «Ich hoffe, dass er noch ganz lange für uns spielt. Es ist etwas ganz Besonderes, mit ihm in einer Mannschaft zu spielen», sagte sein Kollege Borna Sosa vom VfB Stuttgart.
Die Krönung, die ihm vor vier Jahren im Finale verwehrt blieb, könnte nun möglich sein. Ein Trumpf der Kroaten sind ihre starken Nerven – und der Kapitän. «Luka Modric hat den Rhythmus vorgegeben. Es ist unglaublich, wie großartig er spielt. Er war nicht müde. Wir haben ihn gefragt und er war voll bereit. Das ist Luka Modric. Er hat gezeigt, dass er einer der besten Spieler der Welt ist», fügte Chefcoach Dalic an. Eine Auswechslung wie noch gegen Japan gab es diesmal nicht. Passend dazu sagte Co-Trainer Ivica Olic: «Kroatien ist ein kleines Land, hat aber sehr große Fußballer.»
Brasiliens Abwehrchef Silva war sichtlich bedrückt. «Das ist ganz schwierig, man hat keine Worte. Das tut sehr weh. Ich hätte gern den Pokal in die Höhe gehalten», bekannte der Profi des FC Chelsea. Vor allem der späte Ausgleich machte ihm zu schaffen: «Es war einfach unglücklich und es ist wahnsinnig schwer.» Bevor Petkovic vor 43.893 Zuschauern ausglich, schien das Spiel eigentlich entschieden. Doch dann kam für Kroatien erst der Joker – und dann der Elfmeterheld.