Der große japanische Literaturnobelpreisträger, Friedensaktivist und Atomkraftgegner Kenzaburo Oe ist tot. Er sei am 3. März mit 88 Jahren an Altersschwäche gestorben, teilte sein Verlag Kodansha mit.
Als einer der bedeutendsten Vertreter der japanischen Nachkriegsliteratur war Oe bis ins hohe Alter ein steter Mahner und Warner und scheute nicht davor zurück, gegen Bestrebungen der regierenden Konservativen nach Änderung der pazifistischen Nachkriegsverfassung klar Stellung zu beziehen. Zugleich stand er an der Spitze einer Bewegung von Menschen in seinem Land, die nach der Atomkatastrophe in Fukushima vor genau 12 Jahren in Folge eines Erdbebens und Tsunamis einen Ausstieg aus der Atomkraft fordern.
Briefwechsel mit Günter Grass
Oe war so etwas wie das soziale Gewissen Japans. Der frühere Bundeskanzler Willy Brandt meinte einmal, Oe spiele in seinem Land «offenbar dieselbe Rolle wie Günter Grass in Deutschland – den Nestbeschmutzer». Beide Literaturnobelpreisträger – Oes Briefwechsel mit Grass erschien in Deutschland 1995 – thematisierten in Werk als auch in Tat die Lehren aus der schmerzlichen Vergangenheit ihrer Länder.
Für viele war Oe der erste moderne Schriftsteller Japans mit starken europäischen Einflüssen und Prägungen, nicht zuletzt durch den französischen Existenzialismus. Seinen literarischen Durchbruch erzielte Oe allerdings mit seiner frühen Erzählung «Der Fang» (1958) über die Erlebnis- und Erfahrungswelt von Kindern durch Kriegseindrücke. Nicht immer war er – vor allem für Leser in der westlichen Welt – leicht lesbar, «konsumierbar».
Gern stellte Oe europäische Lesegewohnheiten auf den Kopf («Ich mache es meinen Lesern nicht leicht»), sein literarischer Rang war aber bald und schon vor der Nobelpreisverleihung anerkannt – Henry Miller rückte Oe sogar in die Nähe eines Dostojewski. Oe selbst nannte seinen Erzählstil «grotesken Realismus» und berief sich dabei gern auf den französischen Dichter François Rabelais (1494-1553).
Aber auch deutsche Autoren wie Grimmelshausen und Goethe beeindruckten ihn. Kurz vor seinem 80. Geburtstag kamen in deutscher Übersetzung seine autobiografischen Essays in «Licht scheint auf mein Dach» heraus. Darin geht es um seinen geistig behinderten Sohn Hikari, der klassische Musik komponiert.
Die Geburt seines Sohnes war auch Thema seines vielleicht bekanntesten Romans, des Meisterwerks «Eine persönliche Erfahrung» von 1964. «Ein Akt der Selbstentblößung, wie ihn die europäische Literatur kaum kennt», schrieb ein Kritiker dazu.
Warner, Mahner, Kritiker
In Japan war Oe Mitbegründer einer Bürgerorganisation, die sich für den Erhalt des Friedensartikels 9 der Nachkriegsverfassung einsetzt. Immer wieder meldete sich Oe, der lange als literarischer Einzelgänger oder linksintellektueller «Bürgerschreck» galt, zu dem Thema zu Wort.
Als die Regierung des kürzlich ermordeten rechtskonservativen Ex-Regierungschefs Shinzo Abe unter anderem ein Gesetz zur verschärften Bestrafung von Geheimnisverrat erließ und eine Stärkung der Rolle des Militärs vorantrieb, warnte Oe schon vor einem Rückfall Japans in die Zeiten, die zum Zweiten Weltkrieg führten. «Ich spüre, dass Japan an einem Wendepunkt angelangt ist».
Ein weiteres zentrales Thema für Oe, der am 31. Januar 1935 auf der Insel Shikoku im Südwesten Japans als Spross einer adligen Samurai-Familie geboren wurde und von seiner ländlichen Herkunft geprägt blieb, war der Atombombenabwurf auf Hiroshima, wo im Mai dieses Jahres der G7-Gipfel westlicher Wirtschaftsmächte stattfindet.
«Hiroshima muss in unseren Erinnerungen eingeprägt sein: Es ist eine Katastrophe, die noch dramatischer als Naturkatastrophen ist, weil sie von Menschen gemacht ist. Dies durch dieselbe Missachtung für menschliches Leben in Atomkraftwerken zu wiederholen, ist der schlimmste Verrat an die Erinnerung der Opfer von Hiroshima», sagte Oe in einem Interview nach der Atomkatastrophe von Fukushima.
Das schwedische Nobelpreiskomitee, das Oe 1994 mit dem Nobelpreis für Literatur ehrte, würdigte denn auch nicht nur Oes literarisches Schaffen, sondern auch seine Rolle als Sozialkritiker sowie Mahner vor kritikloser Verwestlichung seines Heimatlandes. Oe, der sich selbst einmal das «schwarze Schaf» der japanischen Literatur nannte, zählte Thomas Mann zu seinen Vorbildern, wenn es um die Verbindung von literarischer und gesellschaftspolitischer Bedeutung geht.