Der Weltsport steht durch den Konflikt um die Rückkehr russischer Athleten zu internationalen Wettkämpfen vor einer der größten Zerreißproben – mit unabsehbaren Folgen.
IOC-Präsident Thomas Bach sieht sich angesichts des anhaltenden Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine in einem Dilemma, pocht auf die Autonomie des Sports und weist Einflussnahmen von Regierungen zurück.
«Wenn wir einen Ausschluss nach politischen Gesichtspunkten vornehmen, stehen wir vor einem Verfall des internationalen Sportsystems», betonte der Chef des Internationalen Olympischen Komitees in einer Rede in der Essener Philharmonie zum Thema «Olympia im Spannungsfeld von Sport und Politik».
Das IOC-Exekutivkomitee wird auf seiner Sitzung am kommenden Dienstag in Lausanne über Eckpunkte entscheiden, mit denen sichergestellt werden soll, dass die Bedingungen für Starts von russischen und belarussischen Sportlerinnen und Sportlern eingehalten werden. «Das ist keine beneidenswerte Aufgabe», meinte Bach. «Wie wir der gerecht werden, wird nur die Geschichte entscheiden können.»
IOC sei zum Handeln verpflichtet
Das IOC sei zum Handeln verpflichtet, um angesichts der unterschiedlichen Praxis im Umgang mit Russen und Belarussen durch die Weltverbände eine einheitliche Linie vorzugeben. «Es wäre sonst ein totales Tohuwabohu», sagte Bach. «Wir wollen den Sport nicht als politische Waffe, sondern als verbindende Kraft.» Zustimmung fände die IOC-Sicht in vielen Teilen der Welt, in Afrika, Asien, Amerika und Ozeanien, aber nicht überall, was die Diskussion in einigen europäischen Ländern zeige: «Inklusive, um nicht zu sagen, insbesondere in Deutschland.»
Tatsächlich sind der Deutsche Olympische Sportbund, die Verbände und Athleten nicht gewillt, dem deutschen IOC-Präsidenten vorbehaltlos zu folgen. Vielmehr gibt große Bedenken und fundierten Widerstand auf allen Ebenen gegen eine Rückkehr russischer Athletinnen und Athleten, die aktuell vom DOSB abgelehnt wird. «Das ist die Haltung, die wir im DOSB vertreten und für die wir viel Rückhalt im deutschen Sport spüren», erklärte der Dachverband.
Blick auf IOC-Führung
Man blicke nun gespannt auf die Sitzung der IOC-Führung. Wenn in der Exekutivsitzung die Wiederzulassung beschlossen werden sollte, dann müssten «dafür strikte Voraussetzungen gelten, die sowohl umsetzbar als auch sanktionierbar» seien: «Wichtig ist uns insbesondere, dass Russland und Belarus die Teilnahme ihrer Athleten nicht zu kriegspropagandistischen Zwecken missbrauchen können.»
Der Sprecher der DOSB-Spitzenverbände, Andreas Michelmann, fordert vom IOC eine nachvollziehbare Entscheidung. «Hierzu bedarf es – spätestens in Zukunft – klarer Kriterien und universeller Regeln, nach denen ein Land respektive dessen Nationales Olympisches Komitee ausgeschlossen oder wieder zugelassen wird», sagte er. Nur so könne es gelingen, einen Eindruck von Willkür nicht entstehen zu lassen.» Zuversichtlich ist er, dass der deutsche Sport sich am Ende dieses Prozesses «weitestgehend einhellig» zeigen und eine deutsche Position finden werde.
Gefördert wurde dieser Schulterschluss von einem vom DOSB in Auftrag gegebenen Rechtsgutachten, das zu einer menschenrechtlichen Abwägung gekommen ist, die konträr zur IOC-Linie steht. Demnach wäre ein Ausschluss russischer Sportler trotz der Ungleichbehandlung aufgrund von Nationalität «nicht als Verstoß gegen internationale Diskriminierungsverbote zu klassifizieren und somit zulässig». Das IOC plädiert auf Basis der Feststellung von zwei UN-Expertinnen, wonach kein Athlet wegen seines Passes an Wettkampfstarts gehindert dürfe, für eine Wiederzulassung.
Kritik an IOC-Haltung
Thomas Summerer, Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportrecht, kritisiert die Haltung des IOC. Anstatt eine rote Linie zu ziehen, nachdem Russland wiederholt den olympischen Frieden verletzt habe, übe es sich in einer realitätsfremden Politik der Zugeständnisse und Beschwichtigungen, schrieb er in der Zeitschrift «Sport und Recht». Das IOC sei «auf dem Irrweg». Die Politik des IOC laufe Gefahr, die Staatengemeinschaft zu spalten und einen Boykott heraufzubeschwören.
Davon ist auch die Interessenvertretung Athleten Deutschland überzeugt. «Vom IOC erwarten wir, die Empfehlungen zum Ausschluss Russlands im Weltsport aufrechtzuerhalten und deren Umsetzung durch die Weltverbände mit Vehemenz einzufordern», erklärte deren Direktor Sportpolitik Maximilian Klein. Eine eingehende Befassung des IOC mit dem DOSB-Gutachten sei dringend geboten.
Fechtsport als Negativbeispiel
Die Geschehnisse im Fechtsport sollten ein alarmierendes Negativbeispiel bleiben. Der Weltverband FIE hatte mit großer Mehrheit entschieden, dass Russen und Belarussen künftig wieder international fechten dürfen. «Die Ignoranz des Weltverbands hat absehbar dazu geführt, dass die Opfer des Angriffskrieges zum Rückzug genötigt werden, während der Aggressor auf dem Rückweg auf die Bühne des Weltsports hofiert wird», befand Klein.
Eine andere Erfahrung hat Australian-Open-Siegerin Aryna Sabalenka aus Belarus auf der Tennis-Tour wegen der Rolle ihres Landes beim Einmarsch Russlands in die Ukraine gemacht. «Es war wirklich hart für mich, weil ich noch nie so viel Hass in der Umkleidekabine erlebt habe», berichtete sie vor dem Beginn des gerade laufenden Turniers in Miami. Die Weltranglisten-Zweite kann nicht verstehen, «dass es so viele Leute gibt, die mich ohne Grund hassen.» Die 24-Jährige betonte: «Ich habe nichts getan.»