Willis Gibson reißt die Augen auf und schlägt die Hände vors Gesicht. Er beugt sich vor und zurück und schnappt nach Luft. «Oh mein Gott», haucht er immer wieder. Der 13-jährige US-Amerikaner kann es selbst kaum glauben, was er eben vollbracht hat. Als erster Mensch hat er Tetris besiegt. Dank einer neuen Fingertechnik hat er es in Level 157 bis zum «kill screen» geschafft, also dem Moment, wo der Bildschirm einfriert, weil die Hard- und Software an ihre Grenzen gekommen sind. Normalerweise ist die Geschwindigkeit ab Level 29 so hoch, dass kein Mensch viel weiter kommt.
Henk Rogers, Chef der US-amerikanischen Tetris Company, ist Anfang des Jahres einer der ersten Gratulanten. Eine «erstaunliche Leistung» bescheinigt er Gibson bei einem Videoanruf. Er und Tetris-Erfinder Alexej Paschitnow hätten bei einem Abendessen über den neuen Rekord gesprochen und seien überwältigt von Gibsons «unglaublicher Technik» und seinem Tempo, sagt er. Tetris sei nämlich eigentlich nicht programmiert worden, um es durchzuspielen.
Tatsächlich hätte sich Paschitnow vor 40 Jahren wohl kaum träumen lassen, wie und wozu sich Tetris einmal entwickeln werde. Der Mathematiker arbeitete in den 1980er Jahren im Rechenzentrum der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, als die ersten einem Personalcomputer ähnlichen Geräte im Land aufkamen. Mit der Programmierung von Spielen sollte auch die Rechenleistung der neuen Anlagen getestet werden. Allerdings sei dies für ihn eher ein Vorwand gewesen, erzählte er später. Die Programmierung von Spielen sei eine Art Hobby für ihn gewesen.
Name «Tetris» vom Lieblingssport des Erfinders inspiriert
Zu Tetris wurde er dabei von Kindheitserinnerungen an das Puzzlespiel Pentomino angeregt. Während dort fünf Quadrate aneinander kleben und verschiedene Figuren bilden, verkürzte Paschitnow sein Spiel auf vier Blöcke, auch weil es die Programmierung erleichterte. Der Name Tetris ist eine Zusammensetzung aus dem altgriechischen tetra (vier) und Tennis – Paschitnows Lieblingssportart.
Seither purzeln die Figuren über den Bildschirm. Wobei die Quadrate aufgrund fehlender Grafikkarten damals einfach mit zwei Klammern dargestellt wurden. Er habe alles maximal einfach gemacht, sagt Paschitnow. «Damals habe ich befürchtet, dass irgendeine falsche Entscheidung das Spiel ruiniert.»
Ruiniert hat er das Spiel nicht, im Gegenteil. Es war sofort ein Riesenerfolg. Zuerst freilich nur im Kollegenkreis, die Kopien davon miteinander teilten. Seinen globalen Siegeszug trat Tetris erst einige Jahre später an, als westliche Spielehersteller darauf aufmerksam wurden.
Kampf um die Spiellizenz
Der Kampf um die Spiellizenz entwickelte sich dabei Ende der 1980er Jahre zu einem echten Wirtschaftskrimi, der 2023 auch verfilmt wurde. Zunächst sicherte sich Mirrorsoft, eine Firma des britischen Medienmoguls Robert Maxwell, über Mittelsmann Robert Stein die Computerrechte, wobei die Briten die Vereinbarung sehr großzügig interpretierten und ohne Wissen der Sowjetunion Sublizenzen in Europa und Asien verkauften.
Paschitnow sah die ersten zehn Jahre überhaupt kein Geld für seinen Hit, weil er die Rechte daran an den sowjetischen Staat – in Form der Außenhandelsfirma Elektronorgtechnika – kurz Elorg – abtreten musste. Elorg führte dann auch die weiteren Verhandlungen, die sich dramatisch zuspitzten, als der damals in Japan lebende niederländische Spieleentwickler Rogers und in seinem Rücken der Nintendo-Konzern auf den Plan traten.
Rogers hatte Tetris das erste Mal auf einer Computermesse gesehen und war sofort begeistert. Um sich die Rechte für Mobilgeräte daran zu sichern, reiste er praktisch im Alleingang nach Moskau – zeitgleich mit Stein und Abgesandten von Mirrorsoft. Dort machte er den besten Eindruck, nicht nur auf die Moskauer Bürokraten, sondern auch auf Paschitnow, der ihn trotz der damit vorhandenen Risiken kurzerhand in seine Wohnung einlud, ihn mit seiner Familie, weiteren von ihm programmierten Spielen und eigenen Angaben nach auch reichlich russischem Wodka bekannt machte.
Am Ende bekam Rogers für Nintendo nicht nur die Tetris-Rechte an mobilen, sondern auch an stationären Konsolen. Selbst Maxwells Protest bei Staatschef Michail Gorbatschow, zu dem er persönlich gute Beziehungen hatte, fruchtete nichts – auch weil die Russen jahrelang zuvor kein Geld gesehen hatten.
Tetris landete damit bei dem 1989 von Nintendo auf den Markt gebrachten Game Boy und sorgte mit für dessen grandiosen Erfolg. 70 Millionen Exemplare wurden von dem Gerät verkauft. Weltweit ist Tetris mit etwa 500 Millionen Kopien eins der meistverkauften Computerspiele in der Geschichte. Heute kennt das Spiel praktisch jeder, der schon einmal am Computer gedaddelt hat.
Tetris als erstes Computerspiel im All
Selbst in den Weltraum ist Tetris schon geflogen: 1993 – nach dem Zerfall der Sowjetunion – nahm der russische Kosmonaut Alexander Serebrow einen Game Boy zur Raumstation Mir. In den wenigen Stunden Freizeit, die er hatte, habe er sich gern damit vergnügt, schrieb er später. Tetris bekam damit einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde als erstes Computerspiel im All.
1993 hatte derweil auch Paschitnow den Absprung geschafft. Zwei Jahre zuvor hatte er die Sowjetunion verlassen, die er als «schreckliches Land» empfand, in der Menschen nur Mittel zum Zweck der Existenz des Imperiums seien. Heute warnt er vor einer Wiederholung imperialer Gelüste in Moskau unter Kremlchef Wladimir Putin.
In den USA gründete er mit seinem Freund Rogers die Tetris Company, mit der er Ableger seines Spiels entwickelte. Mehrere Jahre arbeitete er zudem bei Microsoft – die beste Zeit seines Lebens – wie er rückblickend erklärte. Auch wenn andere mit Tetris den großen Reibach machten und er erst ab 1996 ein paar Tantiemen für seine Erfindung bekam, war er nie verbittert. Für ihn sei es wichtig gewesen, das Spiel in bestmöglicher Form herauszubringen, erklärte der 69-Jährige.
Dies ist ihm zweifellos gelungen. Denn Tetris fasziniert viele Menschen auch 40 Jahre nach seinem Start noch. So wird wohl auch der «Weltrekord» von Gibson nicht für die Ewigkeit bleiben. Seine Konkurrenten haben schon angekündigt, den «kill screen» absichtlich umgehen zu wollen, um in neue Level vorzustoßen.