Lindsey Vonn grüßte noch schnell ihre Kritiker, Felix Neureuther kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Mit einem Fabellauf und einem gewaltigen Fingerzeig an die Konkurrenz ist Ski-Superstar Vonn in die letzte Saison ihrer Karriere gestartet. Die US-Amerikanerin fuhr in St. Moritz nicht nur zu ihrem ersten Weltcup-Sieg seit fast acht Jahren, sondern in einer eigenen Liga. Eine «Göttin» sei die 41-Jährige, rief Neureuther begeistert. Da verblassten auch die starken Ergebnisse der deutschen Skirennfahrerinnen.

Emma Aicher wurde in der ersten Abfahrt der Saison immerhin Fünfte, ihre Teamkollegin Kira Weidle-Winkelmann Achte. Es sind zwei echte Mutmacher für die Olympischen Winterspiele in Italien in knapp zwei Monaten. Doch die ganz große Show lieferte beim Speed-Opening in der Schweiz die langjährige Alpin-Dominatorin. Vonns insgesamt 83. Weltcup-Sieg war eine Machtdemonstration.

Neureuther aus dem Häuschen

Fast eine Sekunde legte die viermalige Gesamtweltcupsiegerin zwischen sich und die zweitplatzierte Österreicherin Magdalena Egger. «Es ist unfassbar», sagte Ex-Skistar Neureuther als TV-Experte der ARD. «Das war mit das Beste, was ich jemals in meinem ganzen Leben gesehen habe.» Und sie sei noch nicht mal zu 100 Prozent sauber gefahren, erklärte die strahlende Vonn selbst.

Im Ziel hatte sich die Abfahrts-Olympiasiegerin von 2010 zunächst in den Schnee fallen lassen. Als sie wieder aufgestanden war, gab sie einen kleinen Freudenschrei von sich und winkte in die Kamera. Als ihr im Interviewbereich später ein Handy gereicht wurde, begann sie zu weinen. Vonn zeigte nicht nur eine famose Fahrt, sondern wie gewohnt auch die ganz großen Emotionen.

Historischer Sieg als Ansage an die Kritiker

Sie habe all die Kritik als Motivation genommen, ließ Vonn noch einmal wissen. Bei ihrem Comeback im vergangenen Winter war sie von mehreren Ex-Skigrößen verbal heftig angegangen worden. Spätestens mit diesem Sieg, dem ersten im Weltcup seit ihrem Triumph im schwedischen Are im März 2018, schlug sie nun eindrucksvoll zurück. Von der Rückkehrerin zur großen Favoritin für die Olympischen Spiele im Februar – so schnell kann es gehen.

Sie verschiebe Grenzen, sagte Neureuther über die nun mit Abstand älteste Weltcup-Gewinnerin der Alpin-Geschichte. Der frühere norwegische Skistar Aksel Lund Svindal, der seit Sommer zu ihrem Trainerstab gehört, fiel Vonn nach dem Rennen erleichtert um den Hals. Es scheint, als habe sich mit dem «Team Lundsey» eine neue Traumkombination gefunden. Als könne sich Vonn ihren Wunsch von einer weiteren Olympia-Medaille tatsächlich noch erfüllen.

Vonn fährt mit Teilprothese im Knie

Der Konkurrenz dürfte Vonns denkwürdiger und historischer Auftritt acht Wochen vor den Winterspielen jedenfalls zu denken geben. Trotz ihres für eine Leistungssportlerin fortgeschrittenen Alters und einer Teilprothese im Knie, mit der sie inzwischen fährt, wirkt die in ihrer Karriere von schon so vielen Verletzungen gezeichnete Amerikanerin fit wie lange nicht – und demnach kaum zu stoppen. Auch am Samstag nicht? Sie sei selbst gespannt, sagte Vonn.

Wenn in St. Moritz die zweite Abfahrt des Winters ausgetragen wird, ist Vonn diejenige, die es zu schlagen gilt. Dann wird aus der Göttin die Gejagte.