Nikolai Setzer, Vorstandsvorsitzender der Continental AG. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Michael Matthey/dpa)

War Continental mal ein Start-up? Das mag historisch gesehen etwas zu «hip» klingen – aus Sicht der Gründer 1871 jedoch könnte der Modebegriff beinahe zutreffen.

Im damaligen Kautschuk-Boom versuchten auch kleine Firmen und Tüftler, den natürlichen Rohstoff aus den Tropen für allerlei Gummiprodukte zu nutzen. Bald ging es darum, Reifen im Industriemaßstab zu fertigen. Schließlich hatte der amerikanische Rivale Goodyear bereits gut 30 Jahre Vorsprung. Die Pneus aus Hannover bildeten den Grundstock für einen weltweit verzweigten Konzern. Er wird an diesem Freitag (08.10.) 150 Jahre alt.

Viele Umbrüche

Zum Jubiläum beschwört die Chefetage eine Erzählung nach dem Motto «Der Wandel ist die einzige Konstante». Die Conti-Geschichte ist in der Tat voller Brüche, Umbauten, Neuorientierungen. Manchmal bedingt durch die Zeitläufte und externe Schocks, manchmal angestoßen durch die Reaktionen auf interne Defizite. Daraus sollen sich auch einige Lehren ableiten lassen – gerade jetzt, wo der zweitgrößte deutsche Autozulieferer mit bisher 38 Milliarden Euro Jahresumsatz und 236 000 Beschäftigten wie die gesamte Branche vor dem nächsten, wohl größten Veränderungsprozess steht. Oder eigentlich schon mitten drin ist.

«Die aktuelle Geschwindigkeit ist eine andere als bei früheren Transformationen», sagt Vorstandschef Nikolai Setzer. «Software hat ganz andere Entwicklungszyklen.» Aber mit dem Ausrufen einer «neuen Continental» hat der Dax-Konzern Erfahrung. Der erste Umschwung kommt ab 1874, als der Chemiker Adolf Prinzhorn die Herstellung von Reifen professionalisiert. Fahrräder sollen auf Luftschläuchen rollen, die Kautschukverarbeitung muss verfeinert werden. Aus Südamerika kommend, war der «biologische Kunststoff» aus dem Milchsaft des Gummibaums nach Indien und Südostasien geraten – und damit unter weitgehende Kontrolle Großbritanniens als dominierender See- und Handelsmacht.

Mit dem Gummi geht es los

Auch das Deutsche Reich will mehr Zugriff auf das Grundmaterial. Der US-Erfinder Charles Goodyear – Namensgeber des späteren Konkurrenten – hatte lange vorher Fortschritte in der Kautschuk-Härtung gemacht: Seine Technik der sogenannten Vulkanisation war in den späten 1830ern gereift. Mit Schwefelatomen ließen sich unter Hitze und Druck Brücken zwischen den weitmaschigen Riesenmolekülen (Polymeren) schlagen. Der Zusatz von Ruß stabilisierte einzelne Gummigemische zusätzlich.

Es war die Geburtsstunde der Reifenchemie. Conti hinkt anfangs noch hinterher. Das aufstrebende Gewerbe meldet jedoch Bedarf an größeren Mengen an. Methoden werden erforscht, um die Natur-Polymere künstlich nachzubilden. Ein Hintergedanke im Zeitalter des Imperialismus dabei: möglichst viel dieses Synthesekautschuks für die Armee herzustellen.

Die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg sehen die Hannoveraner als Phase des Durchbruchs zum Autoreifen-Hersteller. Erste Profilmodelle werden bei Weltausstellungen bestaunt. In der Zwischenkriegszeit mit hoher internationaler Verflechtung rationalisiert und «amerikanisiert» der Radrennfahrer und Kaufmann Willy Tischbein das Unternehmen – diese Transformation wird erstmals viele Jobs kosten. Das Produktangebot erweitert sich um Freizeitartikel wie Gummiboote oder Badekappen.

Das dunkelste Kapitel

Dann ab 1929 der große Crash: Die Weltwirtschaftskrise trifft Conti hart, Produktion und Handel schrumpfen, die Arbeitslosigkeit steigt. Mit Hitlers Machtergreifung 1933 beginnt schließlich das dunkelste Kapitel. Wegen der auch militärisch wichtigen Gummierzeugung wandelt sich der Konzern zum NS-Musterbetrieb, in dem bis 1945 Tausende Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge als Zwangsarbeiter ausgebeutet werden. Viele sterben, noch mehr werden systematisch schikaniert. Immer mehr «Buna»-Kautschuk – gebildet mit den Stoffen Butadien und Natrium – soll her. Für Lkw-Reifen, Stiefelsohlen, Maschinenteile.

Im Sommer 2020 stellte Conti eine Studie zur Aufarbeitung dieser Zeit vor. Sie ergab ein erschreckendes Bild. Die Analyse des Historikers Paul Erker zeichnete einen schleichenden Prozess vom globalen Unternehmen zur Teil-Maschinerie eines totalitären Systems nach, die in Einrichtungen wie der «Schuhprüfstrecke» im KZ Sachsenhausen in Sichtweite des Galgens gipfelte. «Die Lektüre war an vielen Stellen sehr bedrückend», bilanzierte Setzers Vorgänger Elmar Degenhart.

Wichtig ist dem Konzern: Man will sich nie mehr politisch oder gar von einer Diktatur instrumentalisieren lassen – zumal laut der Untersuchung etliche Manager damals etwa in die Ausgrenzung jüdischer Kollegen «aktiv involviert» waren. Die Lektion gelte heute auch für die Arbeit in anderen Teilen der Welt, verspricht Conti. Degenhart betonte: «Es ist eine Mahnung an alle Führungskräfte in Wirtschaft und Politik, mit ihrer Verantwortung sehr sorgsam umzugehen.»

Schwieriger Neubeginn

Die Wirtschaftswunderjahre der 50er und frühen 60er verschläft man dann ein wenig. Der französische Wettbewerber Michelin beherrscht mit seinem neuen Konzept des Radialreifens die Szene. Contis Versuch von Bündnissen mit Dunlop oder Pirelli geht schief. Ab den späten 70ern kommen solidere Zukäufe oder Beteiligungen mit Uniroyal und Semperit.

Der eigentliche und bis heute nachwirkende Technologiesprung setzt in den 90ern und danach ein: Neben Reifen und Maschinenbau tritt eine eigene Autotechnik-Sparte für Antriebe, Fahrwerke, Steuergeräte und Sicherheitssysteme. Mit Milliardenzukäufen wie Teves und der früheren Siemens-Autosparte VDO macht sich Continental in der Branche breit.

Das «Automotive»-Geschäft, dessen Antriebsbereich jetzt zum größten Teil in die börsennotierte Firma Vitesco abgespalten ist, hebt die Niedersachsen auf ein Niveau mit Global Playern wie Bosch, ZF, Magna, Denso, Schaeffler. Letztere liefern sich mit Continental 2008/2009 einen Übernahmekampf. Am Ende wird die von der Schaeffler-Familie kontrollierte Industrie-Holding mit 46 Prozent zum Hauptaktionär.

Transformation der Schmerzen und Chancen

Wie es weitergeht, ist vorgezeichnet: alles auf Elektromobilität und Digitalisierung. CO2-ärmere oder -neutrale Antriebe, das autonome Fahren, immer mehr Sensorik und eigene Software-Entwicklung sollen die Triebkräfte der kommenden Jahre sein – eingebettet in eine neue Klimaschutz- und Recycling-Strategie. Das höhere Tempo «ändert aber nichts Grundsätzliches an unserem Tun», meint der Vorstandschef. «In den 150 Jahren ist viel passiert, Kriege und Krisen. Wir denken langfristig – sonst wären wir heute nicht dort, wo wir sind.»

Dass der jüngste Umbruch auch Schmerzen auslöst, ist nicht vermeidbar – selbst wenn die Führung mit ihrem Fahrplan «Transformation 2019-2029» versucht, Zehntausenden gestrichenen oder «veränderten» Stellen eine Weiterqualifikation der Belegschaft entgegenzusetzen. Setzer, seit Ende 2020 an der Conti-Spitze, hält die Kürzungen für «sehr bitter». Gleichzeitig seien die Chancen groß: «Wir setzen mit noch mehr Kraft auf unsere Zukunftstechnologien. Die Software macht den Unterschied.»

Von Jan Petermann, dpa

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