Der frisch gebackene Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Steve Parsons/PA Wire/dpa)

Stammt von Sansibar, seit den 1960ern in Großbritannien, Professor an der Universität Kent, lebt in Brighton: Es sind nur Schnipsel eines Lebens, die über Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah bekannt sind.

Mit dem 1948 geborenen Autor kürt die Schwedische Akademie am Donnerstag in Stockholm einen nahezu Unbekannten. Obwohl er seit Jahrzehnten in Großbritannien lebt, kennen ihn auch dort nur wenige. Dabei hat der Schriftsteller bereits zehn Romane und zahlreiche Kurzgeschichten veröffentlicht. Seine Ex-Uni, sein Verlag Bloomsbury – sie werden überrannt von Anfragen.

Klar ist: Gurnah ist der erste tansanische Autor, der den Nobelpreis erhält und der erste schwarze afrikanische Schriftsteller seit Wole Soyinka 1986. Obwohl weitestgehend unbekannt, war die Auszeichnung längst überfällig, wie Alexandra Pringle, seine langjährige Verlegerin bei Bloomsbury erzählt. «Er ist einer der bedeutendsten lebenden afrikanischen Schriftsteller, und nie hat jemand Notiz von ihm genommen», erzählt Pringle, wie der «Guardian» berichtet. «Das hat mich fast umgebracht.» Erst neulich habe sie in einem Podcast erzählt, dass Gurnah stets übersehen würde. «Und jetzt das.»

Überrascht und etwas geschockt

«Ich bin wirklich sehr, sehr überrascht», sagt der frischgekürte Nobelpreisträger am Donnerstag dem BBC Hörfunk und lacht verlegen. «Und etwas geschockt.» Er habe gezittert, als er von dem Preis gehört habe.

Das Thema des ehemaligen Professors für Englische und postkoloniale Literatur ist die Geschichte seiner alten Heimat Sansibar und der neuen Heimat England. Stark von den Eindrücken der brutalen deutschen Kolonialherrschaft und des Ersten Weltkrieges in Deutsch-Ostafrika beeinflusst, erzählt Gurnah von einfachen Menschen. In seinem jüngsten Buch «Afterlives» etwa geht es um den jungen Ilyas, der seinen Eltern von deutschen Truppen geraubt wurde und Jahre später in sein Heimatdorf zurückkehrt, um gegen sein eigenes Volk zu kämpfen.

Gurnah habe stets über Vertreibung geschrieben, sagt Pringle, «aber auf die schönste und eindringlichste Art und Weise über das, was Menschen entwurzelt und sie über Kontinente hinweg weht». Es wirkt ein wenig, als spiele seine eigene Geschichte in seine Literatur hinein. Denn auch Gurnah hat Vertreibung erlebt.

1964, nach einer Revolution auf Sansibar, das heute zu Tansania gehört, war er gezwungen, als junger Mensch seine Heimat zu verlassen. Die arabische Elite, die 200 Jahre lang über die afrikanische Mehrheit auf Sansibar herrschte, wurde gestürzt. Es folgten Massaker. Mit 21, mittlerweile in England angekommen, begann Gurnah zu schreiben, auf Englisch und nicht in seiner Muttersprache Suaheli. Seine erste Erzählung «Memory of Departure» erschien 1987. Erst 20 Jahre nach seiner Flucht, 1984, konnte Gurnah nach Sansibar zurückkehren, um seinen im Sterben liegenden Vater wiederzusehen.

Sich selbst zu beschreiben, falle ihm schwer, erzählte Gurnah 2016 in einem Interview. Ob er postkoloniale oder Weltliteratur schreibe? «Ich würde keines dieser Wörter wählen», sagte er da. «Tatsächlich bin ich mir nicht sicher, ob ich mich anders nennen würde als ich heiße. (…) Genau, ich möchte nicht, dass dieser Teil von mir einen reduzierten Namen hat.»

Hintersinniger Humor

Aus der Sicht seines deutschen Übersetzers Thomas Brückner sind Gurnahs Romane von einem hintersinnigen Humor geprägt. «Es gibt schwierige Autoren, die man übersetzen kann oder muss. Und es gibt welche, die viel leichter zu übersetzen sind, weil der literarische Gehalt im Leichtgewichtigen liegt. Insofern ist er schon ein ernstzunehmender und ernsthafter Autor.»

«Ich hatte das große Glück, ihn immer wieder mal fragen zu dürfen, wenn mir ein paar Sachen unklar waren. Er hat sehr freundlich reagiert. Da die Übersetzung ins Deutsche häufig erst Jahre später erfolgt, musste ich mir öfter mal anhören: das weiß ich nicht mehr», sagt Brückner.

Vergleiche sind immer schwierig, Verlegerin Pringle fällt der Nigerianer Chinua Achebe ein, der als Vater der modernen afrikanischen Literatur gilt. Gurnah schreibe «besonders schön und ernsthaft, aber auch humorvoll, liebenswürdig und sensibel», sagt sie. «Für mich ist er ein außergewöhnlicher Autor, der über wirklich wichtige Dinge schreibt.»

Gurnah war in seiner Küche, als er vom Nobelpreiskomitee erreicht wurde, wie der Vorsitzende des Nobelkomitees der Akademie, Anders Olsson, berichtet. Das Komitee habe eine «lange und sehr positive» Unterhaltung mit ihm geführt. «In Gurnahs literarischem Universum verschiebt sich alles – Erinnerungen, Namen, Identitäten», sagt Olsson. «Dies liegt wahrscheinlich daran, dass sein Projekt nicht endgültig abgeschlossen werden kann.» Es ist eine Forschungsreise, die nie endet.

Von Benedikt von Imhoff und Naveena Kottoor, dpa

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