Vergossene Milch, leergepumpte Tankstellen, Schweine, die für die Mülltonne getötet werden: Zurück aus der jubelnden Parteitagsblase holen den britischen Premier Boris Johnson die Probleme seines Landes mit voller Wucht ein.
Etwa die enormen Versorgungsengpässe und der sich zuspitzende Arbeitskräftemangel.
«Wir wollen unseren Leuten so viel zahlen wie möglich, aber Unternehmen sind kein endloser Schwamm, der unendlich viele Kosten aufsaugen kann», schimpfte etwa der Chef der Supermarktkette Iceland, Richard Walker, am Donnerstag in der «Times». Johnson hatte am Vortag in einer großen Rede die Wirtschaft aufgerufen, in höhere Löhne und bessere Bedingungen für britische Arbeitskräfte zu investieren.
«Die Wirtschaft wird als Buhmann dargestellt, aber das Problem ist viel größer», sagte Walker, der mittlerweile Zweifel daran hat, dass die Tories wirklich noch die Partei der Unternehmer sind. Im nächsten Jahr kämen gleich mehrere Kostensteigerungen auf Betriebe zu: «Wir werden höhere Energiepreise haben, weitere Lkw-Fahrer bezahlen müssen und weitere Verpackungskosten.» Das sei nicht alles auf einmal zu stemmen.
Auch Craig Beaumont von der Federation of Small Businesses, die kleinere britische Unternehmen als Verband vertritt, sagte dem Sender Times Radio, man fühle sich von den Tories nicht mehr berücksichtigt. Zurzeit sei die oppositionelle Labour-Partei die einzige mit konkreten Angeboten für kleine Unternehmen.
Fahrer fehlen noch immer
Zwischen Manchester, wo Johnson sich von der Parteibasis feiern ließ, und seinem Amtssitz in der Londoner Downing Street liegen zahlreiche der von Lieferengpässen betroffenen Tankstellen. Noch immer sitzen viele auf dem Trockenen, weil Fahrer für Tanklaster fehlen. Lange Schlangen vor Zapfsäulen, aus denen noch Benzin und Diesel floss, beherrschten sogar international die Schlagzeilen.
Doch auf der Insel zeigen sich bereits weitere Folgen der Tatsache, dass Fernfahrer an allen Ecken und Enden fehlen. So berichtet der Sender Sky News über einen englischen Farmer, der in den vergangenen zwei Monaten 40.000 Liter Milch wegschütten musste, da niemand kam, um sie abzuholen.
Fleischbauern haben begonnen, Schweine für die Mülltonne zu töten, weil niemand sie zum Schlachthof bringen kann. Der National Pig Association zufolge wurden mehrere Hundert gesunde Tiere gekeult – Tausende weitere könnten folgen. Und der Lebensmittelkonzern Nestlé kann nicht garantieren, dass die Quality-Street-Weihnachtssüßigkeiten in den nächsten Wochen wie gewohnt verfügbar sein werden.
Mit Kurzzeitvisa für bis zu 5000 ausländische Fahrer bis Februar versucht die Johnson-Regierung derzeit, zumindest das Weihnachtsfest zu retten. Bislang ist der Zulauf jedoch überschaubar: Bis zum Wochenbeginn hatten sich auf die besonders dringend gebrauchten Visa für Tanklasterfahrer gerade einmal 127 Bewerber gemeldet.
«Unkontrollierte Einwanderung» werde es aber nicht mehr geben, betonte Johnson in seiner Rede. Mit der Weigerung, die nach dem Brexit verschärften Einwanderungsregeln zu lockern, geht er auf Konfrontation mit der Wirtschaft. Wie die Briten jetzt so schnell zu den in vielen Branchen dringend benötigten Fachkräften werden sollen, die bislang oft aus Osteuropa kamen, ließ er jedoch offen.