Skateboarder fahren in der documenta-Halle auf der Halfpipe, die Teil des Werks der Initiative Baan Noorg Collaborative Arts and Culture ist. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Uwe Zucchi/dpa)

Über 410.000 Menschen haben die von Antisemitismus-Vorwürfen überschattete documenta in Kassel in ihrer ersten Halbzeit besucht.

«Damit verzeichnet die documenta fifteen in der Zwischenbilanz trotz Corona-Pandemie annähernd die Zahlen der bisher besucherstärksten Ausgabe», teilte die Pressestelle der 100-tägigen Weltkunstausstellung am Montag mit. Die documenta 14 im Jahr 2017 besuchten während der ersten 50 Tage demnach 445.000 Menschen. Zur Halbzeit der documenta fifteen in Kassel ziehen Experten nun ein gemischtes Fazit – nicht nur wegen des Antisemitismus-Eklats.

Kunst als kollektiver Prozess

«Wir haben es aktuell mit einem doppelten Drama zu tun, einerseits mit dem Antisemitismus-Elend und andererseits mit dem ästhetischen Elend einer programmatisch entkunsteten Ausstellung», sagte der Kasseler Kunstwissenschaftler und documenta-Kenner Harald Kimpel. Die Ausstellung sei ein Ärgernis, wenn man sie als documenta begreife. Allein der Verzicht auf das Erfolgsmodell einer allein verantwortlichen Künstlerischen Leitung sei ein Rückschritt. Mit der zehnköpfigen Künstlergruppe Ruangrupa kuratiert erstmals ein Kollektiv die Weltkunstausstellung. Im Mittelpunkt steht nicht das Werk, sondern Kunst als kollektiver Prozess.

Das documenta-Forum – eine Art Freundes- und Unterstützerkreis der Weltkunstschau – fällt ein anderes Urteil. «Gerade weil die documenta fifteen durch viel Inspiration die aktuell weltweit offensichtlichen Fragestellungen künstlerisch bearbeitet, kann sich das documenta-Forum gut vorstellen, dass gerade diese Weltausstellung eine neue Seite in der documenta-Geschichte aufschlägt, die diesen Globus noch viel umfassender als bisher in den Blick nimmt», teilte der Vorstand mit. Die Auswahl Ruangrupas habe eine vielschichtige und anregende Horizonterweiterung verschafft, deren Auswertung noch lange nicht beendet sein dürfte.

Gleichzeitig plädierten sowohl Kimpel als auch das Forum für eine Einordnung der Arbeiten. Dieser Forderung will die documenta nun nachkommen – zumindest, was einige Werke betrifft. So kündigten die Verantwortlichen am Montag an, dass Erläuterungen zu einigen Kunstwerken hinzugefügt würden. «Um die documenta fifteen als Ort des gegenseitigen Lernens und Verstehens zu stärken, fügt die Künstlerische Leitung mehreren Arbeiten in der Ausstellung derzeit Kontextualisierungen in verschiedenen Formaten bei», hieß es in der Pressemitteilung. Dieser Prozess sei bereits initiiert und werde sukzessive fortgeführt. «Zudem wird die angestrebte Zweisprachigkeit (Englisch/Deutsch) in der Ausstellung verstärkt weiterverfolgt, indem weitere Label- und Wandtexte auf Deutsch ergänzt werden, um die Zugänglichkeit der Beiträge zu erhöhen.»

Steht die Zukunft der documena zur Debatte?

Kimpel sieht darüber hinaus bei dieser documenta den westlichen Kunstbegriff, der sich sieben Jahrzehnte in Kassel programmatisch manifestiert habe, aus den Angeln gehoben. Kunstlosigkeit sei zum Programm erhoben worden. Man müsse sich bei dieser documenta nicht wie bei früheren Ausgaben in einen neuen Kunstbegriff einarbeiten, nicht Werke von Großmeistern der Ästhetik durcharbeiten, um zu verstehen, was gezeigt werde. «Stattdessen sieht man einfach ohne symbolischen Zusammenhang, was gemeint ist. Wenn irgendwo Bambus zu sehen ist, dann ist der Bambus ein Bambus.»

Die fünfzehnte Ausgabe der Schau stellt für ihn eine Zäsur dar. Sie widerspreche dem traditionellen documenta-Gedanken, das Wesentliche der zeitgenössischen Kunst durch die subjektive Perspektive einer einzelnen künstlerischen Leitungsperson zu spiegeln. Die Krise gehöre zur Existenzform der documenta zwar dazu – die Ausstellung habe immer «schwer durchgesetzt» werden müssen. «Aber jetzt ist diese Krise so stark, dass man sie nicht mehr als Lebenselixier der Ausstellung begreifen kann, sondern jetzt steht die Zukunft der documenta zur Debatte.»

Bereits vor der Eröffnung der documenta fifteen hatte eine Antisemitismus-Debatte um die Schau begonnen. Zum Jahresbeginn waren erste Stimmen laut geworden, die das indonesische Kuratorenkollektiv Ruangrupa und einigen eingeladenen Künstlern eine Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS vorwarfen. Kurz nach der Eröffnung Mitte Juni war ein Banner mit judenfeindlichen Motiven entdeckt und abgebaut worden. Später tauchten weitere Werke auf, die scharfe Kritik auslösten.

Die Generaldirektorin der Schau, Sabine Schormann, hatte als Konsequenz aus dem Eklat vor einigen Wochen ihr Amt niedergelegt. Um die Vorkommnisse aufzuarbeiten, soll die Ausstellung in den kommenden Monaten von sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begleitet werden. Eine systematische Überprüfung aller Werke auf mögliche kritische Inhalte lehnen sowohl die Geschäftsführung als auch die Künstlerische Leitung der Ausstellung ab.

Von Nicole Schippers (Text) und Uwe Zucchi (Bild), dpa

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