Die Autorin Emine Sevgi Özdamar wird mit dem Georg-Büchner-Preis 2022 ausgezeichnet. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Heike Steinweg/SV/Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung/dpa)

Vergangenes und Geliebtes bewahren ist ein Antrieb für die künstlerische Arbeit von Emine Sevgi Özdamar. «Ich hatte früher immer gesagt, ich möchte die Toten ins Gedächtnis rufen», sagt die Schriftstellerin am Dienstag der Deutschen Presse-Agentur.

Zuvor hatte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt bekanntgegeben, dass Özdamar mit dem renommierten Georg-Büchner-Preis 2022 ausgezeichnet wird. Die Akademie ehrt damit eine Autorin, die das Erinnern zu einem zentralen Motiv in ihren Romanen erhoben hat.

Literatur als Gedächtnis

«Beim Schreiben findet man auch Menschen, die man geliebt hat, die aber nicht mehr leben», sagt sie. Literatur als Gedächtnis – so könnte man ihr Werk vielleicht zusammenfassen. Özdamars Texte, die wegen ihrer poetischen Sprache viel gelobt wurden, sind häufig autobiografisch gefärbt und mit Verweisen auf literarische Werke, Filme oder befreundete Künstlerinnen und Künstler ausgestattet.

Sie gewann bereits 1991 den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2022 wurde ihr neuester Roman «Ein von Schatten begrenzter Raum» für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Zuvor hatte man einige Jahre nichts von ihr gehört. Zu ihren bekanntesten Büchern gehört der Roman «Das Leben ist eine Karawanserei: hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus» (1992). Das Buch ist ebenso wie die Nachfolge-Werke «Die Brücke vom Goldenen Horn» (1998) und «Seltsame Sterne starren zur Erde» (2003) sowie ihr jüngster Roman von ihrem Leben inspiriert.

Sie hat am Theater gearbeitet

Özdamar wurde in Malatya in der Türkei geboren und wuchs in Istanbul und Bursa auf. 1965 kam sie erstmals nach West-Berlin. Nach dem Militärputsch in der Türkei 1971 mit Massenverhaftungen und Zensur kehrte sie nach Berlin zurück. Sie arbeitete an verschiedenen Theatern, unter anderem mit dem Brechtschüler Benno Besson und mit Claus Peymann. In den 80er Jahren begann sie in Deutschland zu schreiben.

Türkei, Berlin, München, Bochum, Düsseldorf: «Ich habe überall gelebt», sagte die Künstlerin. «Ich habe meine ersten Wörter für meine Bücher in Düsseldorf gefunden. Das war eine friedliche Stadt und da habe ich angefangen zu schreiben.» In die Türkei konnte sie damals nur selten. «Früher konnten wir sehr wenig kommen, weil ich am Theater arbeitete und mein Mann auch.» Inzwischen lebt sie abwechselnd in der Türkei und in Berlin.

Die am 10. August 1946 geborene Schriftstellerin bereichere seit über drei Jahrzehnten die deutschsprachige Literaturszene mit ihren Romanen, Erzählungen und Theaterstücken, teilte die Jury am Dienstag mit. «Mit Emine Sevgi Özdamar zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung eine herausragende Autorin aus, der die deutsche Sprache und Literatur neue Horizonte, Themen und einen hochpoetischen Sound verdankt.»

Ungewohnte literarische Stilmittel und aus dem Türkischen inspirierte Sprechweisen prägten ihre Texte, hieß es weiter von der Jury. Diese würden neben intimen persönlichen Erfahrungen ein breites Panorama deutsch-türkischer Geschichte entfalten, vom Ersten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Poetisch, experimentell, ausufernd – so haben andere ihre Arbeit beschrieben.

Das Buch muss reifen wie bei einer Schwangerschaft

Und sie selbst? «Menschliche Körper sind wie alte Zivilisationen. Schichtweise lagern wir mehrere Gefühle, das sind die Stoffe», sagt Özdamar über ihre Intention. Unter Druck setzen möchte sie sich bei ihrer Arbeit nicht. «Ganz am Anfang wusste ich, dass ich drei Romane hintereinander schreiben möchte – Kindheit, junges Mädchen, junge Frau.» Sie möge es aber nicht, wenn sie mit einem Buch fertig sei, sofort mit einem neuen Buch zu beginnen. Das müsse, wie bei einer Schwangerschaft ein Kind, reifen.

Die Auszeichnung mit einem der wichtigsten literarischen Preise für deutschsprachige Literatur kam für sie unerwartet. «Man ist immer überrascht, auch mit den anderen Preisen. Plötzlich kommt der Anruf.» Als frühzeitiges Geburtsgeschenk sieht Özdamar, die derzeit an der ägäischen Küste in der Türkei ist, den Preis nicht. «Daran habe ich gar nicht gedacht.» Sie wird an diesem Mittwoch 76 Jahre alt und ist erst die zwölfte Frau, die den Georg-Büchner-Preis bekommt.

Seit 1951 vergibt die Akademie den Preis an Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die in deutscher Sprache schreiben. Özdamar soll die Auszeichnung, die mit 50 000 Euro dotiert ist, am 5. November im Staatstheater in Darmstadt feierlich verliehen werden.

Von Oliver Pietschmann, dpa

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