Eurovision Song Contest – das bedeutet neben dem Wettstreit um das beste Lied auch Glitzerfontänen, bombastische Lichtshows, Windmaschinen, viel Plüsch und Tausende kreischende Fans.
Wie passt das zusammen mit Raketeneinschlägen und umkämpften Frontlinien, von denen kaum jemand zu sagen vermag, wo sie morgen, geschweige denn im nächsten Jahr, verlaufen werden? Die Verantwortlichen haben nun entschieden: gar nicht. Die Ukraine – die diesjährige Siegerin des Musikwettbewerbs, der größten TV-Show Europas – wird den kommenden Contest nicht im eigenen Land ausrichten. Stattdessen springen die zweitplatzierten Briten ein.
«Nach der Anfrage der European Broadcasting Union und der ukrainischen Behörden freue ich mich, dass die BBC zugesagt hat, den Wettbewerb im nächsten Jahr auszurichten», sagte die britische Kulturministerin Nadine Dorries. Allerdings sei es traurig, dass der ESC wegen des «andauernden russischen Blutvergießens» nicht in der Ukraine stattfinden könne, dort wo er eigentlich hingehöre.
Die Ukraine war schon zweimal Gastgeber
Mitte Mai gewann die ukrainische Gruppe Kalush Orchestra mit dem Lied «Stefania» im italienischen Turin den 66. ESC. Damit haben die Ukrainer eigentlich zum dritten Mal das Recht auf die Austragung im Folgejahr erlangt, schon 2005 und 2017 waren sie Gastgeber.
Doch auf den bunten Triumph folgte schnell die harte Kriegsrealität: Wie die Sicherheit der Teams aus aller Welt und Tausenden Fans gewährleisten, wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer vielerorts selbst um ihr Leben bangen müssen. Rund fünf Monate nach Ausbruch des Krieges weiß niemand, wann und wie dieser endet. Die Planung einer Veranstaltung dieser Dimension grenzt an ein Ding der Unmöglichkeit.
Der Brite Sam Ryder («Space Man») hat in Turin den zweiten Platz belegt. Schnell brachte das Vereinigte Königreich sich als potenzieller Ausrichter ins Gespräch – wobei Premierminister Boris Johnson als enger Verbündeter der Ukraine schnell jeden Zweifel auszuräumen versuchte, das Spektakel an sich reißen zu wollen. «Tatsache ist, dass sie ihn gewonnen haben, und sie verdienen es, ihn zu haben», sagte er damals. Nun versprach er, «im Namen unserer ukrainischen Freunde einen fantastischen Wettbewerb zu veranstalten».
«Der ESC 2023 wird nicht in der Ukraine sein, aber in Unterstützung der Ukraine», sagte der ukrainische Rundfunkchef Mykola Tschernotyzkyj. «Wir sind unseren BBC-Partnern dankbar für die Solidarität, die sie uns zeigen.» Er sei zuversichtlich, dass das Ereignis mit «ukrainischem Geist» bereichert werde.
Ähnlich äußerte sich Kalush-Sänger Oleh Psjuk. Zwar sei er traurig, dass die Show nicht in der Ukraine steige. Aber: «Wir hoffen, dass die Eurovision 2023 ein ukrainisches Flair haben und unsere schöne, einzigartige Kultur feiern wird», teilte Psjuk der britischen Nachrichtenagentur PA mit. Seine Band und er würden alles dafür geben, dass die Ukraine auch 2023 gewinnt und der ESC 2024 «in einem friedlichen Land stattfinden kann».
Es ist bereits das fünfte Mal, dass Großbritannien den ESC ausrichtet, ohne den Wettbewerb im Vorjahr gewonnen zu haben. 1960 sprang das Land für die Niederlande ein, 1963 für Frankreich, 1972 für Monaco und 1974 für Luxemburg.
Welche Stadt bekommt den Zuschlag?
Auch ESC-Chef Martin Österdahl zeigte sich dankbar, dass Großbritannien einspringt. «Die BBC hat den Wettbewerb bereits vier Mal anstelle anderer Sieger ausgerichtet», sagte Österdahl. «Wir setzen diese Tradition der Solidarität fort.» Damit sei zudem sichergestellt, dass die Ukraine als Sieger 2022 während der gesamten Veranstaltung gefeiert und präsentiert werde. Als Sieger 2022 muss sich die Ukraine im kommenden Jahr ebenso wie die «Großen Fünf» Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien nicht qualifizieren, sondern nimmt automatisch am Finale teil.
Großbritannien richtet den ESC damit zum neunten Mal aus. Vier Mal wurde die Bühne in London aufgebaut, beim bisher letzten Mal 1998 war die zweitgrößte Stadt Birmingham der Party-Ort.
BBC-Chef Tim Davie sprach von einem «großen Privileg»: «Die BBC möchte diese Veranstaltung zu einem wahren Spiegelbild der ukrainischen Kultur machen und die Vielfalt der britischen Musik und Kreativität demonstrieren.» Nun beginne die Suche nach der Ausrichterstadt. Dabei können sich Interessenten wie Manchester und Glasgow ab dieser Woche bewerben, Bristol soll ebenfalls Interesse haben. Und: «London ist bereit, einzuspringen», twitterte auch Hauptstadt-Bürgermeister Sadiq Khan – es wäre der Stadt eine Ehre.