DFB-Kapitän Manuel Neuer mit der «One Love»-Kapitänsbinde. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Christian Charisius/dpa)

Im glutroten Sonnenuntergang von Al-Shamal spielte sich Hansi Flick mit seinen Assistenten ein paar Bälle zu. Den FIFA-Eklat um die vom Weltverband auf den letzten Drücker doch noch verbotene «One Love»-Kapitänsbinde von Manuel Neuer konnte der Bundestrainer aber nicht einfach so wegkicken.

An der gegenüberliegenden Eckfahne des Trainingsplatzes der Nationalmannschaft standen exakt 48 Stunden vor dem Anpfiff des Schlüsselspiels gegen Japan DFB-Boss Bernd Neuendorf und Teammanager Oliver Bierhoff. Sie erläuterten total verärgert die für den Deutschen Fußball-Bund verstörenden Vorgänge, die sich wenige Stunden zuvor im über 100 Kilometer entfernten Doha mit dem unerwartet scharfen Dekret des Weltverbandes ereignet hatten.

«Es fühlt sich schon stark nach Zensur an»

«Das Verhalten der FIFA ist frustrierend. Diese Eskalation führt dazu, dass es nicht mehr um den Sport geht. Es fühlt sich schon stark nach Zensur an», wetterte DFB-Direktor Bierhoff über die von Gianni Infantinos Generalsekretärin Fatma Samoura überbrachte sportliche Sanktionsdrohung. Keine Geldstrafe, sondern eine Strafe, die den sportlichen WM-Erfolg gefährden könnte. Nach dieser Ansage des Weltverbandes verzichten der DFB und seine europäischen Verbündeten wie England oder die Niederlande auf das Tragen der bunten Armbinde mit der Botschaft für Vielfalt und Freiheit bei ihren ersten Spielen in Katar.

Ein Einknicken vor dem Diktat der FIFA? Nein, meinte Bierhoff: «Man kann uns natürlich die Binde nehmen. Aber die Werte, für die wir stehen, werden wir haben und immer zum Ausdruck bringen», versicherte der ehemalige Nationalmannschafts-Kapitän. Spätestens jetzt ist allerdings klar: Die Vorbereitung des WM-Auftaktspiels der DFB-Elf am Mittwoch (14.00 Uhr/ARD und MagentaTV) gegen Japan wird durch die ungekannte sportpolitische Schärfe im Dauerkonflikt zwischen der FIFA und den europäischen Fußball-Schwergewichten überlagert.

Nicht auf dem Rücken der Spieler austragen

«Es ist ein beispielloser Vorgang in der WM-Geschichte. Es handelt sich aus meiner Sicht um eine Machtdemonstration der FIFA. Sie hat uns klargemacht, dass wir mit sportlichen Sanktionen bedroht werden», sagte DFB-Präsident Neuendorf. Der WM-Erfolg darf nicht in Gefahr geraten. Das war für den DFB-Chef, Bierhoff und sicher auch für Flick klar. Die Konsequenzen wären nicht mehr kalkulierbar gewesen. «Wollen wir die Mannschaft, wollen wir unseren Kapitän einem solchen Risiko aussetzen, dass wir sportlich sanktioniert werden? Das wollen wir nicht auf dem Rücken der Spieler austragen», argumentierte Neuendorf.

«Auch für Manuel Neuer ist es eine schwierige Situation», sagte Bierhoff. Wenige Minuten später ließ sich der DFB-Kapitän auf dem Trainingsplatz beim vorletzten Training vor dem Japan-Spiel warmschießen. Im Chalifa International Stadium darf er eine von der FIFA vorgegebene Binde tragen – zum Beispiel mit dem Schriftzug «No discrimination».

Flick wird alles tun, diese massiven sportpolitischen Zerwürfnisse zwischen FIFA und Fußball-Europa, die längst die Einheit des wichtigsten Sports bedrohen, von seinen Spielern fernzuhalten. Er muss vor dem Duell mit Japan wichtige Personalien klären. Und die sind drängend genug.

Ist WM-Veteran Thomas Müller nach wochenlanger Pause beim FC Bayern topfit und bereit für die Paraderolle ganz vorne im Sturm? Kann Bayern-Antreiber Leon Goretzka oder Manchester Citys Kapitän Ilkay Gündogan in der Zentrale neben dem gesetzten Joshua Kimmich Japans Qualitäten besser bremsen? Geht der Bayern-Block tatsächlich mit der Maximal-Stärke von sieben Spielern ins Turnier? Und mit wem wird die Schwachstelle auf den defensiven linken Außenbahnen besetzt? David Raum oder Christian Günter.

Die erste Aufgabe Japan ist schwer genug

Flick denkt ein Turnier nicht vom Ende her, wie Löw 2018, als dieser die Gruppenphase mit den Gegnern Mexiko (0:1), Schweden (2:1) und Südkorea (0:2) als Durchlaufstationen betrachtete. Ein fataler Fehler, wie sich herausstellte. Verteidiger Niklas Süle erinnerte auch an das Scheitern vor vier Jahren in Russland. Es sei wichtig, «dass wir auf Knopfdruck da sind. Wir haben einiges gutzumachen», sagte der Abwehrspieler von Borussia Dortmund.

Aus den Köpfen sei die historische Pleite im schnelllebigen Fußball-Business verbannt. Die erste Aufgabe heißt diesmal Japan und ist schwer genug. Also muss Flick abwägen. Goretzka oder Gündogan. Die Wucht des Bayern-Antreibers, der offensive Momente und Torgefahr heraufbeschwören kann oder die Ballfähigkeit des Kapitäns von Manchester City, der den technisch versierten Gegner durch Kontrolle im Aufbau einer Stärke berauben kann. Das könnte eine Schlüsselentscheidung Flicks erst für Japan und dann für das Turnier sein.

Wie auch die Müller-Frage. Flick will nach dem schmerzhaften Aus für Timo Werner einen zentralen Angreifer, der in Bewegung ist, der den Gegner anläuft und Räume öffnet. Keiner verkörpert diese Qualitäten so gut wie Müller. Doch ist der 33-Jährige, der seit 2010 schon zehn WM-Tore schoss und damit so viele wie kein anderer WM-Spieler in Katar, nach seiner Münchner Herbstauszeit und den multiplen Wehwehchen tatsächlich turnierfit? Flick versicherte, Müller werde «so gut vorbereitet wie noch nie» in eine WM gehen. Bluff? Oder Realität? Müller twitterte am Montag auf Englisch: «Zurück. Bereit für die WM.»

Arne Richter und Klaus Bergmann, dpa

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