Nach zwölf Jahren ist Oberammergau wieder Schauplatz der Passion. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Angelika Warmuth/dpa)

Die Zeiten sind nicht rosig. Vor düster-grauer Kulisse mahnt Jesus zur Umkehr, mal laut und energisch, mal verzweifelt an dieser Welt.

Mit einer blutigen Kreuzigung, einer leidenschaftlichen Botschaft und vielen Bezügen zum Judentum bringt Spielleiter Christian Stückl die Geschichte vom Leiden und Sterben Jesu in Oberammergau auf die Bühne. Rund 4400 geladene Gäste sahen am Samstag in dem Alpendorf die Premiere der berühmten Passionsspiele.

«Wahre den Frieden»

«Wahre den Frieden», fordert Jesus beim Abendmahl Judas auf, als der frustriert Widerstand gegen die unterjochenden Römern verlangt: «Gott will, dass wir uns wehren.» Die 2000 Jahre alten Bibelworte, die Frederik Mayet als starker Christus Jüngern und Volk zuruft, gewinnen in Zeiten des Krieges brennende Aktualität: «Selig die, die Frieden stiften.» Und bei der Festnahme, als Petrus ihn verteidigen will: «Die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert umkommen.» Immer wieder mahnt er: «Kehrt um», «denkt um!».

Stückl ist katholisch, geht aber einmal mehr mit kritischer Distanz zur Kirche seinen eigenen Weg. Etwa lässt er nach der Auferstehung Jesus nicht mehr leibhaftig auf der Bühne erscheinen.

Spektakuläre Massenszenen

Spektakulär sind die Massenszenen wie bei der Verurteilung Jesu, ein Markenzeichen der Passion. Hunderte Menschen drängen auf der Bühne, fordern lautstark «Kreuzigt ihn!». Rund 2100 Einheimische wirken bei dem fast 400 Jahre alten Spiel mit, fast der halbe Ort, die Ältesten über 90, die Jüngsten auf dem Arm der Eltern. Auch Flüchtlingskinder sind dabei. Dazu Pferde, Kamele, Schafe, Ziegen, Hühner und Tauben, die durchs offene Theaterdach flattern. Stückl, Meister großer Szenen, spielt mit dem Chaos und stiftet zugleich Ordnung.

1633 hatten die Oberammergauer ein Gelübde abgelegt, um die Pest abzuwenden. Seither bringt das oberbayerische Alpendorf alle zehn Jahre monumental das «Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus» auf die Bühne, eine beeindruckende Leistung von Laien-Darstellern, Musikern und Solisten. Dieses Mal verzögerte Corona alles um zwei Jahre.

Jesus erhebt Stimme gegen Krieg und Gewalt

Der Oberammergauer Jesus erhebt deutlich die Stimme gegen Krieg, Gewalt, Vertreibung und Diskriminierung. Er fordert dabei die Auseinandersetzung heraus. Auch wenn sich die Diskurse manchmal in die Länge ziehen: Es wird inbrünstig mit und um Jesus diskutiert – so wie es viele auch von der Kirche wünschen.

Den Frauen schafft Stückl mehr Platz, als die Vorlage aus der Bibel als Grundlage vorgibt. Er lässt die Frau des Pilatus auftreten und stärkt die Rollen von Maria, Maria Magdalena und Veronika. Andrea Hecht spielt die Maria als besorgte Mutter, die mit sich ringt, dem Sohn sein eigenes Leben zu lassen.

Es ist Stückls vierte Inszenierung. Seit 1990 hat er das Stück konsequent von anti-judaistischen Passagen befreit. Jesus trägt wie die Jünger Kippa und ist unübersehbar gläubiger Jude. Beim Brotbrechen spricht er den Segen auf Hebräisch, dazu erklingt das gesungene «Schma Israel», eines der wichtigsten Gebete der Juden. Und am Kreuz ruft er zu seinem Vater: «Eloi, eloi, lama Sabachtani (mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen).» Das setzt auch angesichts immer neuer antisemitischer Auswüchse ein starkes Zeichen.

Neu gedeuteter Judas mit Gerechtigkeitssinn

Bei Stückl gibt es kein einfaches Gut und Böse. Er zeigt einen vielschichtigen Konflikt innerhalb der Juden unter der brutalen Herrschaft der Römer, die angesichts der Ukraine, aber auch anderer Brennpunkte aktuelle Dynamik bekommt.

Auch die Jünger sind keineswegs immer seiner Meinung. Besonders mit einem neu gedeuteten Judas geht Jesus in den Diskurs. Nachwuchstalent Cengiz Görür zeigt diesen Judas mit einem starken Gerechtigkeitssinn, der nicht nur einfach ein geldgieriger böser Verräter ist. Erstmals hat Stückl mit Görür und Abdullah Karaca zwei Oberammergauern muslimischen Glaubens Hauptrollen gegeben.

Das ganze Stück spielt in einer Tempelanlage (Bühne Stefan Hageneier) als religiösem und politischem Zentrum Jerusalems: Einen Kontrapunkt zum ansonsten kargen Bühnenbild setzen die opulenten lebenden Bilder mit Schlüsselszenen aus dem Alten Testament. Sie sind wie eine Erinnerung Jesu an die Schriften seiner Ahnen eingefügt: die Vertreibung aus dem Paradies, das Goldene Kalb, der brennende Dornbusch. Chor und Orchester unter Leitung von Markus Zwink begleiten die Szenen mit teils herausragenden Stimmen.

Das kleine Dorf lebt diese Spiele mit Leidenschaft – und begeistert damit Gäste aus aller Welt. Mehrere Hundertausend Besucher werden zu gut 100 Vorstellungen erwartet, viele aus dem Ausland.

Von Sabine Dobel, Britta Schultejans und Cordula Dieckmann, dpa

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