Der ungarische Autor Peter Nadas feiert seinen 80. Geburtstag. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Frank May/dpa)

Im Alter von acht Jahren ließ der spätere Schriftsteller Peter Nadas seine Mutter im Brustton der Überzeugung wissen, dass er die Juden hasse. Die Mutter zwang ihn daraufhin, in den Spiegel zu blicken.

«Schau gut hin», sagte sie, «da hast du einen Juden, du kannst ihn ruhig hassen.» In Interviews betonte der Autor, dass dies eine der wenigen Geschichten in seinen Büchern sei, die sich in der Wirklichkeit genau so ereignete, wie er sie beschrieb.

«Vermesser der europäischen Seelenlandschaft»

Die dunkle Macht des Hasses, die Grausamkeiten, die Menschen einander antun, die Ideologien und Gräuel des 20. Jahrhunderts sind die großen Themen, die das Lebenswerk des Peter Nadas durchziehen. Seine Literatur geht dabei ganz nah auf die Menschen zu. Mit dem Blick eines Chirurgen oder eines Fotografen – zu dem er in jungen Jahren ausgebildet wurde, um diese Meisterschaft bis heute neben der Schriftstellerei zu betreiben – erfasst Nadas, was die Geschichte, was die Verhältnisse mit den Menschen anrichten. Wie sie sich in ihre Haltungen, Gesten, Wörter, Körper einbrennen. Als «großen Vermesser der europäischen Seelenlandschaft» bezeichnet ihn die Literaturkritikerin Iris Radisch.

Nadas wurde am 14. Oktober 1942 in Budapest geboren. Den Holocaust überlebte er mit seiner Familie in Verstecken und mit falschen Papieren. In der Familie des Heranwachsenden war die jüdische Herkunft dennoch kein Thema. Die Eltern waren überzeugte und dann enttäuschte Kommunisten. Die Mutter erlag früh einer Krankheit, als Nadas 13 war. Drei Jahre danach verübte der Vater Suizid.

Von 1965 bis 1969 arbeitete Nadas bei diversen Zeitungen, seitdem ist er freier Schriftsteller. Seine Schreibweise fand im kommunistischen Ungarn nur zögerlich Anerkennung. Fast zwölf Jahre arbeitete am «Buch der Erinnerung» (dt. 1991), einem Opus von 1300 Seiten, das ihm zum Durchbruch im deutschen Sprachraum verhalf.

Kleine Gesten und knappe Dialoge

In den drei subtil miteinander verschränkten Erzählsträngen des Werkes ist bereits die literarische Methode von Nadas erkennbar. Drei Zeitebenen – 1900, 1950 und 1970 – und drei geografische Räume – Ungarn, Heiligendamm und Ost-Berlin – bilden die Bühne für die Liebesverstrickungen dreier Personen. Den Erzählstrom konstituieren Beschreibungen von Details, von Atmosphären, von kleinen Gesten, knappen Dialogen, aber auch Reflexionen.

17 Jahre widmete Nadas dem Roman «Parallelgeschichten» (dt. 2012). Auf den 1700 Seiten der deutschen Fassung verwebt er scheinbar zusammenhanglos Personen, Motive und Ereignisse zu einem Universum jenseits des Textes. Schauplätze und Zeitebenen wechseln oft abrupt. Minutiös seziert der Autor die wechselseitige Wirkung menschlicher Körper aufeinander, ihr gegenseitiges Begehren und die in ihnen abgespeicherten Erinnerungen und menschheitsgeschichtlichen Katastrophen. Holocaust und stalinistischer Terror kommen darin nicht direkt vor.  «Aufleuchtende Details» (dt. 2017), ein weiteres Monumentalwerk von fast 1300 Seiten, handelt wiederum genau von dieser Zeit und ergänzt somit die «Parallelgeschichten».

Ein Dorf an der Donau

Sein letzter Roman «Schauergeschichten» erschien in diesem Jahr in Ungarn. Eine deutsche Übersetzung sollte laut Ankündigung des Rowohlt-Verlags in diesen Tagen in die Buchläden kommen. Nadas kehrt darin zu einer geschlosseneren Erzählform zurück. Im Mittelpunkt stehen ein fiktives ungarisches Dorf an der Donau und seine Bewohner im 20. Jahrhundert. Es ist eine vielstimmige und sprachgewaltige Erzählung über Gier und Großmut, Bosheit und Missgunst vor dem Hintergrund der katastrophisch erlebten Umwälzungen des Kommunismus auf dem Lande: Enteignung des Grundbesitzes, Zwangs-Vergenossenschaftungen, Herrschaft kleinkarierter Parteifunktionäre.

«Mit 80 beginnt der Mensch keine neue Ära», meinte Nadas Anfang des Monats in einem Interview der ungarischen Nachrichtenagentur MTI. «Die „Schauergeschichten“ sind für mich ein Altersscherz, ein Abschied, eine kleine Freude, eine Wunscherfüllung und eine Selbstentlarvung.» Für sein weiteres Schreiben strebe er höchstens einen Perspektivenwechsel an, «aber keinesfalls eine neue Ära». Ein paar Dinge wolle er noch schreiben, aber nicht mehr in monumentalen Umfängen, fügte er hinzu. In seinem Alter ermüde man schnell. «Die Bäume sterben im Stehen, ich beim Schreiben – na, das wäre ein schöner Tod.»

Von Gregor Mayer, dpa

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