Während Verbraucherpreise geklettert sind, sind die Reallöhne deutlich gesunken. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Arno Burgi/dpa)

Nun haben es die Beschäftigten auch amtlich: Im vergangenen Jahr sind die Tariflöhne deutlich langsamer gestiegen als die Verbraucherpreise.

Nur 2,2 Prozent mehr Geld hatten die Tarifbeschäftigten im vergangenen Jahr mehr in der Tasche, wie das Statistische Bundesamt berichtete. Weil in dieser Zeitspanne die Verbraucherpreise um 6,9 Prozent geklettert sind, sind die Reallöhne sämtlicher Beschäftigter das dritte Jahr in Folge deutlich gesunken.

In den laufenden Tarifverhandlungen dürften die Zahlen die Stimmung unter den Beschäftigten noch anheizen, denn gerade in den unteren Lohngruppen spüren die Menschen den Druck teurerer Energie und Lebensmittel besonders stark. 15 Prozent mehr bei der Post, 650 Euro monatliche Steigerung bei der Deutschen Bahn, was in den unteren Lohngruppen 25 Prozent mehr bedeuten würde: Die Forderungen der Gewerkschaften erreichen in diesem Frühjahr lange nicht gekannte Höhen, die Arbeitnehmer zeigen sich zum Arbeitskampf entschlossen. Die Arbeitskräfteknappheit liefert zusätzliche Argumente.

«Einmalzahlungen sind ein süßes Gift»

Noch nicht in die 2022er-Berechnungen eingeflossen sind die Tarifabschlüsse der starken Industriesparten Metall und Chemie, die wesentlich erst in diesem Jahr wirksam werden. Sie enthalten neben Tabellensteigerungen sogenannte Inflationsausgleichsprämien in Höhe von 3000 Euro, die vom Bund steuer- und abgabenfrei gestellt worden sind. Die Gewerkschaften haben diesem Instrument in den Verhandlungen zur Konzertierten Aktion zwar zugestimmt, sehen die Prämien aber zunehmend kritisch. So sagt Verdi-Chef Frank Werneke: «Eine Einmalzahlung ist nicht nachhaltig. Die Preise bleiben auch dann noch hoch, wenn die Prämien längst nicht mehr wirken.»

«Einmalzahlungen sind ein süßes Gift», meint auch der gewerkschaftsnahe Ökonom Reinhard Bispinck. Er ist davon überzeugt, dass das Volumen von Einmalzahlungen in den Verhandlungen mit niedrigeren Tabellenerhöhungen erkauft werden muss. Bispinck hat modellhaft nachgerechnet: Schon im zweiten Jahr haben diejenigen Arbeitnehmer finanzielle Vorteile, die statt der verlockenden Einmalzahlung dauerhaft höhere Gehälter erstritten haben. Das gelte brutto ebenso wie netto.

Nach Beobachtungen des gewerkschaftlichen WSI-Tarifarchivs in der Böckler-Stiftung haben viele Arbeitgeber etwa im Handel und in der Finanzbranche bereits freiwillig hohe Einmalzahlungen an die Beschäftigten geleistet. WSI-Leiter Thorsten Schulten schildert: «Die Arbeitgeber versuchen einfach, anstelle von Tabellenerhöhungen einseitig Einmalzahlungen anzubieten. Natürlich mit dem Vorbehalt, sie der Höhe nach bei nachfolgenden Tarifgesprächen einzurechnen.»

Tarifgehälter werden 2023 deutlich stärker steigen als 2022

Gesamtwirtschaftlich ist der Strohfeuer-Effekt durchaus erwünscht. Der Tarif-Experte Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) setzt voll auf die Einmalzahlungen. Er warnt vor sich gegenseitig anheizenden Löhnen und Verbraucherpreisen, sollten sich die Gewerkschaften mit ihren hohen Forderungen durchsetzen. Der Ökonom schreibt: «Es ist zu hoffen, dass die (…) steuerfreien Einmalzahlungen von den Tarifparteien genutzt werden und die Akteure einer Lohn-Preis-Spirale konzertiert entgegenwirken.»

Sicher scheint bislang nur, dass die Tarifgehälter im laufenden Jahr deutlich stärker steigen werden als 2022, sagt WSI-Leiter Schulten. Genau beziffern könne man dies noch nicht. «Es ist auch nicht ausgemacht, ob damit nach drei Jahren Reallohnverlusten die Inflation ausgeglichen werden kann.»

Mit einem schnellen Abflauen der Teuerung ist jedenfalls nicht zu rechnen, meint die Bundesbank. In ihrem jüngsten Monatsbericht verweist sie bereits auf sogenannte Zweitrundeneffekte aus den aktuellen Tarifabschlüssen – wenn also Unternehmen ihre Preise erhöhen, um die höheren Gehälter zahlen zu können. «Sie tragen dazu bei, dass die Inflationsrate über einen längeren Zeitraum deutlich über dem mittelfristigen Ziel von 2 Prozent für den Euroraum
bleiben wird.»

Von Christian Ebner, dpa

Von