Ali Mitgutsch hat Kindern in aller Welt ein Geschenk gemacht: seine Wimmelbücher. Ohne Worte und farbenfroh erzählen sie seit Jahrzehnten wunderbare Alltags-Geschichten.
Aus dem Schwimmbad, vom Bauernhof, aus den Bergen oder aus der Stadt. Ein zeitloses Panoptikum des Lebens, voller Freuden, Bosheiten und Missgeschicken. Später schuf er Kunst für Erwachsene und arrangierte Gegenstände in Objektkästen. Nun ist der Münchner Künstler tot. Am Montagabend sei er im Alter von 86 Jahren gestorben, teilte sein Freund und Biograf Ingmar Gregorzewski der dpa mit, nachdem zuvor auch der Ravensburger-Verlag darüber berichtet hatte.
Seine Bilderwelten sind zeitlos
Menschen jeden Alters lieben Mitgutschs Bücher – bis heute, auch wenn manches inzwischen etwas aus der Zeit gefallen zu sein scheint. Bagger, Traktoren und Autos sehen heute ganz anders aus als vor mehr als 50 Jahren, als die Bücher in die Kinderzimmer einzogen. Doch altmodisch wirken sie keineswegs, denn das Zwischenmenschliche darin hat sich nicht verändert. Bis heute sind Menschen schadenfroh, boshaft, verbissen, enttäuscht, neugierig und vergnügt.
Und so ist auch die Anteilnahme an Mitgutschs Tod groß. «Deine Arbeit war legendär und eine Inspiration für uns», schrieb der Komiker Thomas Spitzer auf Twitter. Schauspieler Marcus Mittermeier berichtete, dass er mit seinen Kindern «sicher Stunden vor seinen Wimmelbüchern verbracht» habe. Und Journalist Christoph Amend sprach mit seinem Tweet wohl vielen aus der Seele: «Heute ist meine Kindheit endgültig zu Ende gegangen.»
Er ging nie ohne Block und Stift aus dem Haus
Futter für seine Bilder bekam Mitgutsch auf Streifzügen durch die Stadt, vor allem durch sein geliebtes Schwabing. «Dazu habe ich stets einen kleinen Block und einen Stift dabei und zeichne flink Skizzen, mit denen ich dann später arbeite», sagte er mal im Interview der Deutschen Presse-Agentur.
Schon als Kind war der am 21. August 1935 in München geborene Mitgutsch ein guter Beobachter, mit feinem Gespür für Stimmungen und Befindlichkeiten. Auch sein Talent fürs Zeichnen zeigte sich früh. Doch das Leben war hart: Der Zweite Weltkrieg, Heimatlosigkeit, Hunger und bittere Not prägten seine Kindheit. Sein geliebter großer Bruder fiel in Russland an der Front.
Als München in den letzten Kriegsjahren bombardiert wurde, floh die Familie aufs Land. Dort waren sie ungeliebte, bitterarme Flüchtlinge. Der schüchterne Junge, der eigentlich Alfons hieß, litt unter den Demütigungen anderer Kinder: «Du bist einfach eine stinkende Sau, Mitgutsch! Vor dir kann man nur davonlaufen!» So zog er alleine los: «Ich wanderte durch die Auen und den Wald allein und träumte mir die Abenteuer, die ich in Wirklichkeit nicht erlebt habe, weil ich keine Freunde hatte», erinnert sich der Künstler. «Da träumte ich mir zwei Freunde, einen dicken, großen, starken, der mir half, und einen kleineren, frecheren, schlaueren, der mir immer die besten Ausreden zuflüsterte. Mit denen habe ich dann so meine Abenteuer erlebt.»
Eine Kindheit im Nachkriegs-München
Nach dem Krieg besserte sich die Lage der Bäckerfamilie mit zwei Töchtern und einem Sohn kaum. Hungrig, aber mutig eroberten sich die Kinder die Stadt zurück: Sie spielten zwischen Trümmern und in ausgebombten Kellern, suchten nach Altmetall und lieferten sich Bandenkämpfe. Sogar den Keller der zerstörten Gestapo-Zentrale in München erforschten sie, vorbei an kaputten Aktenschränken und leeren Gefängnis-Zellen. Ihre Beute: eine Kiste voller Nazi-Mutterkreuzen, die sie für Kaugummi und Schokolade an US-amerikanische Soldaten verscherbelten. Von solchen Streifzügen kehrte Alfons oft völlig verdreckt zurück – wie «Ali Baba und die 40 Räuber», erklärte er mal seinen Spitznamen Ali.
Was ihn in dieser schweren Zeit besonders faszinierte, waren die Geschichten seiner Mutter. Sie konnte ihren Kindern zwar kein wohlhabendes Elternhaus bieten, dafür aber ihre reiche Fantasie. «Sie hüllte uns regelrecht ein mit ihren Worten, und wir gaben uns ihnen ganz und gar hin und fühlten uns darin geborgen», schrieb Mitgutsch in den Kindheitserinnerungen «Herzanzünder». «Egal wie steil der Weg war, ob große Hitze oder bittere Kälte herrschte oder von welcher Not unsere kleine Familie gerade heimgesucht wurde – Mutter behütete uns auf ihre ganz eigene Art mit ihren Geschichten und lockte uns mit ihnen in eine andere, wundersame Welt.»
Der Blick vom Riesenrad auf die Welt
Ein prägendes Erlebnis: die Fahrt auf dem Riesenrad auf dem Münchner Jahrmarkt Auer Dult, eine seltene Freude für Ali und seine Schwester. Was der Junge aus der Gondel sah, faszinierte ihn. «Es waren Bilder mit vielen Details, es passierte so viel gleichzeitig, die Geschichten gingen nicht aus: Menschen liefen über den Platz, kamen zu Gruppen zusammen, lösten sich wieder auf, Kinder jagten hintereinander her, Karren wurden gezogen, eine Frau sammelte ihren Einkauf vom Pflaster und ein Junge kletterte einen Laternenpfahl hinauf», erinnerte sich der spätere Student der Graphischen Akademie.
Das Riesenrad findet sich im ersten Wimmelbuch «Rundherum in meiner Stadt» von 1968. «Die Aufsicht auf Dinge und Situationen blieb für mich ein Leben lang ein spannendes Thema: Sie wurde die Perspektive all meiner Wimmelbilder.» Mehr als 70 Bücher, Poster und Puzzles entstanden, darunter viele Wimmelbücher. Allein in Deutschland wurden mehr als fünf Millionen Bücher verkauft, im Ausland mehr als drei Millionen.
Sie bestechen durch farbenfrohe Fröhlichkeit und den ironischen Blick auf Kleinigkeiten und menschliche Schwächen. Ein Mann rutscht auf einem Kuhfladen aus, beobachtet von einem Mädchen, dass schadenfroh lacht. Ein Anderer räkelt sich im Freibad in der Sonne, nicht ahnend, dass ihn bald ein kalter Wasserguss treffen wird. Dem Lauser, der diesen Angriff plant, steht freudige Bosheit ins Gesicht geschrieben. Und was passiert dann? Schon kleine Kinder spinnen die Geschichten gerne weiter – genau das wollte der Zeichner erreichen: «Meine Wimmelbücher sind gemacht, um die Kinder in die Gärten der Fantasie zu führen, dass sie selber weitermachen.»