Umstrittene documenta bei «ArtReview» ganz vorn
Mitglieder des indonesischen Kunstkollektivs Ruangrupa bei der Eröffnung der documenta. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Swen Pförtner/dpa)

Mit der documenta in Kassel und der Biennale in Venedig haben die beiden wichtigsten Kunstereignisse des Jahres nachhaltigen Einfluss in der Szene hinterlassen. Das britische Kunstmagazin «ArtReview» setzte die Events an die Spitze seines jährlichen Rankings Power 100 der einflussreichsten Persönlichkeiten der Kunstszene.

Das indonesische Kunstteam Ruangrupa, das die documenta kuratiert hat, landete auf Platz eins vor der in New York lebenden Kuratorin Cecilia Alemani, die mit ihrem Team die Biennale-Ausstellung «The Milk of Dreams» gestaltet hat.

Bereits beim kürzlich veröffentlichten Ranking der in Berlin erscheinenden Kunstzeitschrift «Monopol» waren Ruangrupa mit Platz zwei und Alemani auf Rang vier in der Spitzengruppe der als am einflussreichsten bewerteten Gruppen und Persönlichkeiten.

«ArtReview» achtete bei der Bewertung zur 21. Variante der Power 100 nach eigenen Angaben darauf, dass in Frage kommende Persönlichkeiten durch ihr Wirken in den vergangenen zwölf Monaten «Einfluss auf die Art von Kunst haben, die heute weltweit gezeigt wird».

Vorwurf des Antisemitismus

Ruangrupa war für die künstlerische Gestaltung der documenta verantwortlich. Das Konzept der Gruppe umfasste Einladungen an andere Kollektive, die ihre häufig auf gemeinsamen Erfahrungen basierenden Projekte weitgehend eigenständig zu der Kunstschau mitbrachten. Teils heftig umstritten war die Arbeit von Ruangrupa, weil einige der ausgestellten Arbeiten als antisemitisch interpretiert wurden.

«Die Hierarchie der documenta hat vielleicht nicht damit gerechnet, dass Ruangrupas dezentrale Arbeitsweise eine solche Instabilität hervorrufen würde», schrieb das Kunstmagazin. Das Experiment zeige, dass eine hierarchische Organisation nicht Werte wie Delegation, Zusammenarbeit und Machtübertragung schätzen und sich dann wundern könne, wenn Ereignisse nicht mehr unter Kontrolle seien. Ruangrupas Kraft habe darin bestanden, Strukturen aufzulösen. «Jetzt müssen alle anderen herausfinden, wie es weitergeht», hieß es bei «ArtReview».

Zu Venedig erinnerte das Kunstmagazin an den extrem hohen Anteil von Künstlerinnen aus 58 Ländern bei der zentralen Ausstellung. Kuratorin Alemani lud gerade mal gut zehn Prozent Künstler ein. «“The Milk of Dreams“ war nicht einfach nur eine politische Geste», urteilte «ArtReview», die Ausstellung sei «auch gut gestaltet und überzeugend» gewesen. Zahlen scheinen das zu bestätigen. Die Biennale verzeichnete mit mehr als 800.000 Eintritte einen Rekordandrang.

Platz drei überrascht

Mit einer Überraschung wartet «ArtReview» auf Platz drei auf. Der weltweite Bewegung von Gewerkschaften im Kunstbereich wird damit enormer Einfluss zugeschrieben. Die Duldsamkeit, niedrige Gehälter und schlechte Behandlung zu akzeptieren, werde immer seltener in der Kunstwelt. Es gebe weltweit zunehmend Formen der Selbstorganisation, um auch die Arbeit als solche im Kunstwerk anzuerkennen. Zu den als Beispiele erwähnten Organisationen zählt auch der Berufsverband Bildender Künstler*innen BKK Berlin.

Unter den ersten zwölf Platzierungen finden sich weitere Namen aus der deutschen Kunstszene. Die in Berlin lebende Hito Steyerl landet auf Platz vier unter anderem für ihre «A Sea of Data»-Ausstellung in Seoul. Steyerl setze sich in ihren Arbeiten «mit Witz und Intelligenz» mit den drängendsten Themen der Zeit wie Krieg, künstliche Intelligenz oder Cyber-Überwachung auseinander. Auf Platz sechs sieht das Magazin den Fotografen Wolfgang Tillmanns, auch für seine Retrospektive «To Look Without Fear» im New Yorker Museum of Modern Art. Langsam streife sich der seit Jahrzehnten wirkende Künstler den Mantel eines «elder statesman der Kunst» über. Die international gefeierte Anne Imhof landete für ihre Ausstellungen in Amsterdam, London und New York auf Platz elf.

Schwarze Community im Fokus

Ihr künstlerisches Wirken auch für die Black Community ist bei Fred Moten auf Platz fünf und dem siebten Rang für Simone Leigh mit eingeflossen. Beim US-amerikanischen Kunsttheoretiker Moten würdigt «ArtReview» dessen Bandbreite. Seine Landsfrau Leigh war gemeinsam mit der britischen Künstlerin Sonia Boyce die erste Schwarze, die für ihre Arbeit bei der Biennale in Venedig mit einem Goldenen Löwen geehrt wurde.

Als in diesem Jahr einflussreich wertete «ArtReview» zudem die US-Künstlerin Nan Goldin (Rang acht), den in New York, London, Paris und Hong Kong vertretenen Galeristen David Zwirner (Platz neun), den Präsidenten der Ford Foundation, Darren Walker, auf dem zehnten Platz sowie die chinesische Künstlerin Cao Fei für ihre digitalen Arbeiten auf Rang zwölf.

Von Gerd Roth, dpa

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