Eine Beamtin der Bundespolizei kontrolliert am Hauptstadtflughafen BER eine Reisende aus Russland. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Fabian Sommer/dpa)

Die Luftfahrtbranche warnt vor Chaos an den Flughäfen, wenn der Verkehr ohne digitale Verfahren für Corona-Tests und andere Dokumente wieder in Gang kommt.

Vor der Pandemie hätten Reisende vor dem Abflug und nach der Ankunft im Schnitt eineinhalb Stunden in den Airports verbracht, sagte der Vizechef des Branchenverbands IATA, Conrad Clifford, bei der Jahrestagung in Boston. Im ersten Halbjahr 2021 habe es in Spitzenzeiten bereits bis zu drei Stunden gedauert. «Und das Reiseaufkommen war gerade einmal bei 30 Prozent der Dimensionen vor Covid.»

Entsprechend könnten die Wartezeiten weiter anwachsen, wenn wieder mehr Menschen Flughäfen nutzen. «Unsere Modelle sagen vorher, dass man ohne Verbesserungen bei den Prozessen fünfeinhalb Stunden pro Reise an Flughäfen verbringen könnte», so der IATA-Vertreter – bei 75 Prozent des Reisevolumens vor der Pandemie. Falls so viele Passagiere wie früher flögen, seien bis zu acht Stunden möglich. Neben dem zusätzlichen Aufwand für die Kontrolle von Corona-Tests seien längere Schlangen bei Passkontrollen nach der Ankunft das Problem.

Die Lösung sieht die IATA in einem bei ihr entwickelten digitalen «Travel Pass». Die Grundidee ist, dass Passagiere Formalitäten und Kontrollen online per App erledigen können – und zwar schon, bevor sie zum Flughafen fahren. Bisher haben 76 Gesellschaften das Verfahren auf 286 Strecken getestet. Für die Einführung müsse sich aber jedes Unternehmen einzeln entscheiden, hieß es.

Die Konzernchefs versammelten sich in Boston zu ihrer ersten Jahrestagung seit dem Ausbruch der Krise in einem schicksalhaften Moment für die Branche. Der Luftverkehr ist dabei, sich vom tiefsten Einbruch seiner Geschichte zu erholen. Internationale Flugreisen sind jedoch erst auf gut einem Fünftel des Vor-Corona-Niveaus, viele Gesellschaften schreiben Verluste.

Zugleich kommt die Branche nicht umhin, Weichen beim Klimaschutz zu stellen. Trotz einigen Murrens aus China gab die IATA das Ziel aus, bis 2050 klimaneutral zu fliegen. Chinesische Airlines hätten das Jahr 2060 oder eine Bindung an jeweils nationale Vorgaben vorgezogen.

Flugzeuge verbrennen Kerosin, allein schon das macht das Ziel zur Herausforderung. Hinzu kommt, dass die Branche mit einem munteren Anstieg des Reiseverkehrs rechnet: von verhältnismäßig mageren gut 2 Milliarden Passagieren 2021 auf 5,6 Milliarden 2030 und über 10 Milliarden 2050. Bei heutigen Zuständen müsste sie dann für eine neutrale Klimabilanz 1,8 Gigatonnen CO2 ausgleichen, rechnete der IATA-Verantwortliche Sebastian Mikosz vor. «Der Feind sind nicht Reisen, sondern Emissionen», gab er als Motto aus.

Die kurzfristige Lösung heißt nachhaltig produzierter Treibstoff. Prognosen zufolge sollen damit nahezu zwei Drittel der Einsparungen erzielt werden. Doch die Kapazitäten sind gering. «Der gesamte nachhaltig produzierte Treibstoff auf der Welt würde uns jetzt für fünf Tage reichen», gab Lufthansa-Chef Carsten Spohr zu bedenken. Emirates-Chef Tim Clark verwies darauf, dass solcher Treibstoff derzeit zwei- bis dreimal so viel koste wie herkömmliches Kerosin.

Auch in Deutschland ist CO2-neutral erzeugtes Flugbenzin ein Thema. Am Montag eröffnete Bundesumweltministerin Svenja Schulze in Werlte im Emsland eine neue Anlage, die Kerosin aus mit Ökostrom gewonnenem Wasserstoff sowie CO2 aus der Luft und Biogasanlagen synthetisiert. Nach Betreiberangaben soll es das erste System dieser Art für industrielle Zwecke überhaupt sein, die Mengen sind aber noch gering.

Unter anderem mit staatlichem Engagement soll sich das ändern. So wollen die USA 2050 genug nachhaltigen Treibstoff für den gesamten Bedarf einheimischer Airlines herstellen, betonte Annie Petsonk vom Verkehrsministerium. Doch auch hier gibt es Nuancen. So versicherte United-Chef Scott Kirby, sein Unternehmen werde keinen nachhaltigen Sprit verwenden, der aus Lebensmitteln wie Soja oder Getreide erzeugt wird. Es gibt eine Agrarflächen-Konkurrenz von Nahrung und Energie.

Selbst wenn ein Flugzeug nachhaltig hergestellten Treibstoff verbrennt, wird immer noch CO2 ausgestoßen. Durch klimafreundliche Produktion sollen aber unterm Strich 80 Prozent weniger zusätzlich in die Umwelt kommen. Auf lange Sicht müsse die CO2-Bilanz durch andere Maßnahmen verbessert werden, betonten viele Redner. Dazu gehören das Herausziehen des Klimakillers aus der Luft oder neue Antriebstechnik.

Airbus setzt große Hoffnungen in Wasserstoff, wie Konzernchef Guillaume Faury betonte. Er zeigte sich zuversichtlich, bis 2035 ein mit Wasserstoff betriebenes Flugzeug haben zu können. Der beim Konkurrenten Boeing für die Passagiersparte zuständige Stanley Deal erinnerte an die Herausforderungen der Wasserstoff-Antriebe. Unter anderen müsse man 18 Prozent mehr Treibstoff-Volumen mitnehmen und den Wasserstoff auch noch auf minus 250 Grad Celsius abkühlen.

Wegen der Klimaziele muss viel investiert werden – und das, nachdem der Verband Gesamtverluste von gut 200 Milliarden Dollar durch die Pandemie prognostizierte. Aber der Preis der Tatenlosigkeit könne noch höher sein, erklärte IATA-Verwaltungsratschef Robin Hayes – zum Beispiel, wenn man dann das Heft des Handelns an Regulierer abgeben oder die Einstellung der Verbraucher aus den Augen verlieren würde.

Von Andrej Sokolow, dpa

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