Jemandem etwas verzeihen, vergeben – damit verbinden wir meist, dass wir großmütig einen Schritt auf die andere Person zugehen. Doch es gibt noch einen anderen Blick auf das Thema: Vergeben und verzeihen als Powermove und Akt der Selbstfürsorge.
«Vergebung ist das größte Geschenk, das du dir selbst machen kannst», sagte die US-Schriftstellerin und Bürgerrechtlerin Maya Angelou einmal in einem Interview. Auch die Psychologin Nicole LePera ermuntert dazu, diese andere Perspektive einzunehmen.
Entscheiden, wer wie im eigenen Leben vorkommt
Verzeihen könne eine «Grenze» sein, die wir setzen: «Ich entscheide mich, das Verhalten eines anderen nicht länger über mein Wohlbefinden bestimmen zu lassen», schreibt LePera in ihrem aktuellen Newsletter.
Wenn die andere Person sage, du musst mir verzeihen, heiße das oft: Du musst mich wieder in dein Leben lassen.
Das stimme aber nicht, so LePera. Wer selbstbestimmt verzeihen will, könne sich sagen: «Ich kann jemandem vergeben und genau entscheiden, wie ich ihm erlaube, in meinem Leben vorzukommen.»
«Man kann jemandem vergeben und sich selbst schützen», schreibt sie. «Man kann sich zurückziehen. Man kann der anderen Person sagen, dass man Frieden geschlossen hat und dass man in Zukunft das tun wird, was für einen selbst am besten ist.»
Oder wie Maya Angelou sagt: «Du musst vergeben. Um deiner selbst willen. Um dich von der Last zu befreien.»
Verzeihen kann stark machen
Auch der Berliner Psychotherapeut Wolfgang Krüger sagt: Verzeihen kann stark machen. «Das Verzeihen ist für uns selbst wichtig, weil wir sonst immer in einem galligen Gefühl steckenbleiben und die Welt verdüstern.» Wenn wir aber verzeihen, sind wir in einer Haltung der Großzügigkeit und überwinden unsere Ohnmachtshaltung, was sich sehr positiv auf unsere Selbstachtung auswirkt».
Klingt gut – aber Verzeihen ist oft ja nicht so einfach und fällt uns schwer. Wie geht es? Krüger erklärt:
- Zunächst muss ich die Kränkung wahrnehmen, ich darf sie nicht wegschieben.
- Ich muss die Kränkung aussprechen.
- Ich muss Interessen haben, die wichtiger sind als diese Kränkung. Dann bin ich zwar gekränkt, aber ich bin nicht zu tief getroffen – und kann auch verzeihen.
«Insofern entlastet uns das Verzeihen und hellt unsere Lebensstimmung auf.»
Verzeihen macht das Leben leichter
Wer verzeiht, erlebt der Mannheimer Psychotherapeutin Doris Wolf zufolge:
- Die Gedanken kreisen nicht mehr ständig um das negative Erlebnis, man hat mehr Freiraum für die Eindrücke im Hier und Jetzt.
- Auch körperlich kann man sich entlastet fühlen: Der Druck im Magen oder in der Brust ist weg, man fühlt seine Energie wieder fließen.
- An die Stelle von Wut und Kränkung treten Gelassenheit und innere Ruhe.
Und so sei es auch möglich, wieder positive Seiten an der anderen Person zu sehen, ihr gegenüber offen zu sein und womöglich auch wieder Nähe und Liebe ihr gegenüber zu verspüren.
«Verzeihen kann das Leben erleichtern», so die Co-Autorin des Buches «Wecke deine Lebensfreude» – und zu genau der könne die positive Energie des Verzeihens beitragen.
Wer dennoch Schwierigkeiten mit dem Thema hat, für den gebe es etwa auch Workshops, in denen man etwa Kränkungen aus der Vergangenheit aufarbeiten und lernen kann, mit Kränkungen in der Gegenwart umzugehen, um dann verzeihen zu können, so Wolfgang Krüger.
Denn vermeiden, dass wir uns wegen dem, was eine andere Person sagt oder tut enttäuscht, beleidigt und gekränkt fühlen – das können wir nicht.
«Da ist das Leben ein guter Lehrmeister: Man muss begreifen, dass überall Kränkungen und Enttäuschungen möglich sind», so Wolfgang Krüger. «Und die größten Kränkungen gibt es dort, wo man liebt. Und auch wir selbst sind meist keine Heiligen. Wenn man dies begreift, wird man oft nachsichtiger mit seinen lieben Mitmenschen.»