Stück für Stück schneidet sich das Diamant-beschichtete Stahlseil durch den 80 Zentimeter dicken Stahlbeton. Da, wo früher große Filter Luft von möglicher Radioaktivität reinigen sollten, ist es jetzt vor allem laut und stickig. Doppelter Schutzanzug, Atemschutz – es sei schon «reichlich anstrengend», sagt Mario Schmidt.
1979 hat er mit 16 Jahren seine Lehre im Kernkraftwerk Greifswald angefangen. Nun reißt der 59-Jährige es ab. Man braucht einen langen Atem für Kernkraft – auch wenn der Stecker längst gezogen wurde.
Zum Ende dieses Jahres sollen die letzten drei Kernkraftwerke in Deutschland trotz vielfacher Kritik an der Entscheidung vom Netz gehen. Zwei sollen als Reserve zunächst weiter zu Verfügung stehen. Am grundsätzlichen Atomausstieg wollte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) aber nicht rütteln. Somit steht auch den letzten Meilern in absehbarer Zukunft der Rückbau bevor.
Nach Angaben des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) sind beziehungsweise waren in Deutschland 36 Reaktorblöcke – ohne Forschungsreaktoren – vom Rückbau betroffen. Drei seien vollständig zurückgebaut, bei 27 laufe der Rückbau. Für die restlichen sechs – die drei noch betriebenen und drei bereits stillgelegte Reaktoren – seien bereits Anträge auf Stilllegung und Abbau gestellt worden.
Aufwendiger Rückbau eine Herukulesaufgabe
Wie aufwendig der Rückbau sein kann, zeigt sich in Vorpommern. Es ist nach Angaben der zuständigen Entsorgungswerk für Nuklearanlagen GmbH (EWN) der größte Rückbau eines Kernkraftwerkes in Europa. Von den acht geplanten Blöcken waren fünf in Betrieb, einer davon im Probetrieb. Das Kernkraftwerk war zwischen 1973 und 1990 am Netz und erbrachte einen Anteil von elf Prozent des Strombedarfs in der DDR.
Wegen Sicherheitsbedenken wurden Lubmin und das deutlich kleinere DDR-Kraftwerk im brandenburgischen Rheinsberg nach dem Fall der Mauer abgeschaltet. Man habe das damals zu Anfang nicht verstanden, sagt EWN-Mitarbeiter Bernd Kaukel. «Für uns war die Technik die modernste, die es damals gab zu DDR-Zeiten.» Auch der heute 62-Jährige hatte 1977 nach der Schule seine Lehre im Kernkraftwerk angefangen und ist jetzt am Rückbau beteiligt. «Jetzt ist es für uns ein Job wie jeder andere, aber als wir angefangen haben damit, haben wir unseren eigenen Arbeitsplatz kaputt gemacht und das war natürlich sehr schmerzhaft.» 1989 waren knapp 5000 Menschen hier beschäftigt. Aktuell sind es mehr als 850.
Seit 1995 läuft der Rückbau. Die angestrebte Fertigstellung hat sich wiederholt nach hinten verschoben. Aktuell geht man von der zweiten Hälfte der 2030er Jahre aus. Dann soll das Gebäude soweit entkernt und von Radioaktivität befreit sein, dass es nach entsprechenden Messungen freigegeben, aus der Geltung des Atomgesetzes herausgenommen und konventionell abgerissen werden kann. Das BASE geht davon aus, dass das letzte Atomkraftwerk in Deutschland zu Beginn der 2040er Jahre soweit sein könnte.
Die stark strahlenden Teile wurden in Lubmin bereits vor Jahren ausgebaut und in ein nahe gelegenes Zwischenlager gebracht. Der Rückbau des gigantischen Industriekomplexes bleibt trotzdem eine Herkulesaufgabe. Laut EWN müssen noch etwa 440.000 Quadratmeter Betonoberfläche untersucht werden – rund 62 Fußballfelder. Die abzubauende Masse wird auf etwa 1,8 Millionen Tonnen geschätzt. Alles, was als normaler Schrott entsorgt werden soll, muss so zerlegt werden, dass es in Kisten von der Größe 1,20 mal 0,8 Meter passt, damit das Material in einer speziellen Anlage freigemessen werden kann.
Das Arsenal, das dabei zum Einsatz kommt ist beeindruckend: Seilsägen, Säurebäder, Abrissroboter, Plasmaschneider. Und auch die Sicherheitsvorkehrungen sind für Außenstehende kaum vorstellbar. Nichts geht ohne mehrfachen Kleiderwechsel, aufwendige Sicherheitsschleusen mit Strahlungsmessung und einer freundlichen Frauenstimme vom Band, die sagt: «Vielen Dank, keine Kontamination.»
Dementsprechend hoch sind auch die Kosten. Die Schätzungen sind immer wieder gestiegen. Lagen sie 2014 noch bei 6,6 Milliarden Euro, geht man inzwischen von einem hohen einstelligen Milliardenbetrag aus, einschließlich des Rückbaus in Rheinsberg. Dabei handelt es sich um Steuergeld. EWN gehört dem Bund. Im Gegensatz zu den DDR-Kernkraftwerken müssen die Energiekonzerne in den alten Bundesländern für den Rückbau selbst aufkommen. Hier werden die Kosten pro Block auf etwa eine Milliarde Euro beziffert. Diese Kosten seien in die Strompreise miteingeflossen, schreibt der Verband Kerntechnik Deutschland.
Suche nach einem Endlager
Anders sieht es bei der Entsorgung des radioaktiven Abfalls aus. Die Atomkonzerne Eon, RWE, EnBW und Vattenfall hatten 2017 insgesamt rund 24 Milliarden Euro an einen Staatsfonds überwiesen. Damit sind sie raus – so war es vereinbart worden. Anlageexperten sollten das Geld langfristig deutlich vermehren, um die Kosten für Zwischen- und Endlagerung zu finanzieren. Nach Einschätzung von Kerntechnik Deutschland reichen die Mittel voraussichtlich aus. Kritiker hatten in der Vergangenheit Zweifel daran geäußert.
Die Suche nach einem Endlager für hochradioaktiven Abfall dauert weiter an. Auch das geplante Endlager für schwach- und mittelaktiven Abfall – der Schacht Konrad im niedersächsischen Salzgitter – ist noch nicht fertig. Die Entsorgung sei eine Herausforderung, heißt es vom BASE. Aktuell werde der radioaktive Abfall in Deutschland an 16 Zwischenlagerstandorten gelagert – zumeist in der Nähe ehemaliger Reaktoren wie auch in Lubmin. Hier wird bereits ein neues Zwischenlager geplant. Das könnte auch dann noch gebraucht werden, wenn nebenan schon längst die sprichwörtliche grüne Wiese steht.