Der Kuss hat in der Kulturgeschichte ganz unterschiedliche Implikationen. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Paul Zinken/dpa)

Welch wundervolle Gefühle ein Kuss auslösen kann. Doch längst nicht jeder – mancher sorgt auch für gegenteiliges Empfinden. Oder die Glückseligkeit ist trügerisch, das Ende: tragisch. Zum internationalen Tag des Kusses (6. Juli) ein Blick auf dessen dunkle Seiten.

Heimlich auf Balkonen

Es waren einmal … so könnte die Geschichte von Ana und Carlos beginnen. Ihretwegen pilgern Liebespaare aus aller Welt ins mexikanische Guanajuato, um sich dort in einer sehr engen Gasse zu küssen. Der Lohn dafür soll jahrelanges Glück sein. Dabei ist die Legende der beiden Liebenden alles andere als glücklich: Ana stammt aus reichem Hause, der Minenarbeiter Carlos ist arm. Anas Vater will die Beziehung nicht. Die beiden treffen und küssen sich deshalb jeden Abend heimlich – auf zwei Balkonen, die sich in der Gasse gegenüberliegen.

Es kommt, wie es kommen muss: Anas Vater erwischt sie und ersticht seine Tochter. In einer Variante der Geschichte stürzt Carlos in den Tod, als er versucht, Ana vor ihrem Vater zu schützen. Ein anderes Ende lässt den um seine Geliebte Trauernden in der Mine Suizid begehen.

Ehebrecherisch in Literatur und Kunst

Effi Briest wird beinahe ohnmächtig, als der Major sie mit heißen Küssen überdeckt, wie Theodor Fontane in seinem Gesellschaftsroman schreibt. Allein: Der Major ist nicht Effis Ehemann. Als dieser die kurze Affäre Jahre später aufdeckt, fühlt er sich von der Konvention dazu gezwungen, den ehemaligen Liebhaber im Duell zu töten. Und seine Frau zu verlassen, die fortan gesellschaftlich geächtet ist und jung wie einsam stirbt.

Betrügerische Küsse spielen auch schon früher eine literarische Rolle, so etwa in Dantes Göttlicher Komödie aus dem 14. Jahrhundert. Darin küsst Francesca den Bruder ihres Mannes, der deshalb beide umbringt. Diese verbotene Liebe inspirierte wiederum Bildhauer Auguste Rodin zu seiner weltberühmten Skulptur «Der Kuss», von der es verschiedene Exemplare gibt. Wer genau hinsieht, stellt fest, dass sich die Lippen der innig umschlungen dargestellten Liebenden nicht berühren. Gab es den Kuss schon oder steht er just bevor?

Nicht gegen meinen Willen!

Wie ein Kuss ein Fall für die britische Justiz wurde – und das Urteil aus dem Jahr 1837 das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung stärkte: Nachdem Thomas Saverland bei einer Party Caroline Newton gegen deren Willen geküsst hat, beißt Newton ihm ein Stück seiner Nase ab. Daraufhin verklagt Saverland sie. Doch der Richter stellt klar: Nein heißt Nein. Wenn ein Mann eine Frau gegen ihren Willen küsse, habe «sie das Recht, ihm die Nase abzubeißen, wenn sie Lust dazu hat», wird er im «Bell’s Weekly Messenger» vom 30. April 1837 zitiert.

Mit tödlicher Absicht

Der bekannteste, klar – der Judaskuss. Der Jünger küsst Jesus und verrät ihn dadurch, so die biblische Erzählung. Allerdings ist es ein widersprüchliches Bild, das die Evangelisten von Judas zeichnen – je jünger ein Evangelium, desto negativer die Darstellung des Apostels. Beim ältesten nach Markus wird betont, dass Judas «einer der Zwölf» war. Er gilt nicht wie bei Lukas als «Verräter», sondern als Werkzeug Gottes. Jedoch prägte ein zutiefst negatives Judas-Bild jahrhundertelang den Blick auf die Juden und lieferte eine Grundlage für schlimmsten Antisemitismus.

Nach Judas‘ Vorbild küsst Michael Corleone, gespielt von Al Pacino, seinen Bruder im zweiten Teil des Mafia-Klassikers «Der Pate». Er hat herausgefunden, dass Fredo ihn zuvor verraten hatte. «Ich weiß, dass du es warst, Fredo. Du hast mir das Herz gebrochen, du hast mir das Herz gebrochen.» Doch der Todeskuss ist kein sofortiges Todesurteil. Fredo taucht vorübergehend unter. Später veranlasst Michael doch noch die Ermordung seines Bruders.

Ermattend oder einschläfernd

Wenn der König den Kuss des Todes erhält, ist nicht mehr viel zu retten. Dann heißt es beim Schach: matt. Bei dieser Variante steht die Dame direkt vor dem gegnerischen König; eine andere Figur deckt die Dame. Das funktioniert vorzugsweise, wenn der König am Rand des Brettes steht. Einen völlig überraschenden Kuss des Todes erhielt der König des damaligen Schachweltmeisters Wladimir Kramnik von der Dame des Schachcomputers «Deep Fritz» bei einer Partie im Jahr 2006 – nach einem krassen Fehler Kramniks, den er sich nicht erklären konnte. «Das sah alles so gut für mich aus, und dann bin ich matt in einem.»

Matt fühlt sich auch ein Gegner des Pokémons Rossana, wenn dieses im Spiel seine Spezialattacke Todeskuss anwendet. Er stirbt davon jedoch nicht, sondern schläft ein. Für Kenner: Rossana ist eine Weiterentwicklung des Pokémons Kussilla. Das hat die etwas weniger wirksame Waffe Bitterkuss, die verwirrend wirkt.

Von Alexandra Stober, dpa

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