VW-Dieselklagen: 2022 noch viel Arbeit für Anwälte und BGH
Der Nachhall der Abgasaffäre wird die Autoindustrie auch im neuen Jahr beschäftigen. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Swen Pförtner/dpa)

Hunderttausende Einzelvergleiche mit Kunden sind geschlossen, Grundsatzfragen geklärt – aber die zivilrechtliche Aufarbeitung des Abgasskandals lässt die deutsche Autoindustrie auch 2022 nicht los.

Bei Volkswagen, wo «Dieselgate» vor über sechs Jahren seinen Anfang genommen hatte, erwarten Verbraucher und Konzernjuristen ab Februar weitere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs (BGH).

In Karlsruhe soll es voraussichtlich bis in den März hinein noch einmal darum gehen, in welchen genauen Fällen Schadenersatzansprüche wegen der Wertminderung von Fahrzeugen mit manipulierter Emissionsreinigung verjährt sind. Geplant sind gleich fünf Parallelverfahren zu dem Thema.

Drei-Jahres-Frist für Klagen

Prinzipiell hätten Betroffene innerhalb einer Drei-Jahres-Frist bis Ende 2018 vor Gericht ziehen müssen. Der BGH entschied zwar bereits: Wer unzweifelhaft schon 2015 vom Dieselskandal wusste und erst 2019 oder später klagte, geht leer aus. Jedoch dürfen Gerichte dies Klägern nicht allein wegen der breiten Medienberichterstattung unterstellen – daher kann es in einzelnen Fällen weiteren Klärungsbedarf geben.

Zudem geht es um die Frage, ob Dieselbesitzer auch bei einem Autokauf nach der Information der Finanzmärkte durch VW zur «Dieselthematik» noch Ansprüche haben. Dazu sind mündliche Verhandlungen vorgesehen. Der BGH hat eine Haftung des Autobauers bei solchen späten Käufen im Grunde abgelehnt. Die Richter wollen allerdings ebenso prüfen, ob VW trotz Verjährung womöglich sogenannten Restschadenersatz zahlen muss.

Mögliche Entschädigungen für Leasing-Kunden bleiben ein ähnlich komplexes Thema. Hier gab der BGH als Richtung vor, dass gezahlte Raten bei uneingeschränkter Nutzung nicht zurückerstattet werden müssen – jedenfalls dann nicht, wenn keine anschließende Übernahme des Dieselwagens vereinbart war. Für den April stehen dazu aber ergänzende Termine an.

Viele Autobesitzer akzeptierten Vergleich

Einige große Brocken konnten im zurückliegenden Jahr abgeräumt werden. So nahmen laut VW bis zum Februar 2021 die infrage kommenden Besitzer von Autos mit dem «Skandalmotor» EA189 überwiegend ihr Schadenersatz-Angebot an, das 2020 im Rahmen der Musterfeststellungsklage mit dem Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv) ausgehandelt worden war. Etwa 244 000 Diesel-Fahrerinnen und -Fahrer der Konzernmarken entschieden sich dafür. Manche berichteten von einer verzögerten Abwicklung oder Auszahlung, Volkswagen bedauerte solche Vorkommnisse.

Etliche andere Kunden gaben sich mit dem Vergleichspaket nicht zufrieden oder klagten auch aus anderen Gründen auf eigene Faust weiter. Im Mai 2020 sprach der BGH zu denjenigen Fällen, die bis zu ihm vorgedrungen waren, ein Grundsatzurteil – in dessen Folge einigte sich VW nach eigenen Angaben bisher mit mehr als 40.000 zusätzlichen Kunden.

Andere Autobauer im Fokus

Insgesamt verlagerte sich der Schwerpunkt zuletzt etwas hin zu anderen Autobauern. Nach Auskunft eines BGH-Sprechers von Mitte Dezember waren Ende 2021 rund 1200 Dieselverfahren in Karlsruhe anhängig, ungefähr die Hälfte davon betraf noch den Wolfsburger Konzern. Anfangs seien gut drei Viertel der Verfahren VW-Fälle gewesen. Dabei ist die separat erfasste Konzerntochter Audi nicht mitgezählt. Die Statistik umfasst auch Nichtzulassungsbeschwerden, die beim BGH eingereicht werden können, wenn eine tiefere Instanz keine Revision zugelassen hat.

Der in Karlsruhe ursprünglich allein zuständige VI. Zivilsenat kann die Flut längst nicht mehr bewältigen. Einen Teil der Fälle hatten zwischenzeitlich die Richterkollegen des VII. Senats übernommen. Seit August gibt es nun einen eigens eingerichteten «Hilfsspruchkörper» (VIa. Zivilsenat). Dort sind laut BGH seither rund 600 neue Verfahren eingegangen. Derzeit seien knapp 300 VW-Fälle anhängig.

Offene Fragen

Inhaltlich stehen nach dem Grundsatzurteil vom Mai 2020, das vielen Verbraucherinnen und Verbrauchern den Weg zu Schadenersatz von VW ebnete, nun vor allem noch die spezielleren Konstellationen zur Klärung an. 2021 wurde zum Beispiel entschieden, dass die Entschädigung auch Extra-Kosten für eine Ratenfinanzierung wie Darlehenszinsen umfasst oder dass durch den Weiterverkauf des Autos keine Ansprüche wegfallen. Reine Leasing-Kunden haben hingegen bisher kaum Chancen.

Auch können erfolgreiche Kläger sich den Kaufpreis ihres Diesels nicht noch rückwirkend verzinsen lassen (Deliktzinsen). Die Richter betonten zudem, dass das verpflichtende Update, mit dem die Betrugssoftware deaktiviert wurde, keine neue unzulässige Abschalteinrichtung darstellt – und dass dieser Punkt damit in der Regel keinen neuen Schadenersatzanspruch begründen kann. Im Ausland sind dem Konzern zufolge derweil viele Verfahren fortgeschritten oder beendet. Sammelklagen gibt es jedoch weiterhin in einigen wichtigen EU-Märkten wie Frankreich, Belgien und Portugal, außerdem in Großbritannien – «oft in einem frühen Stadium».

Zum neueren Motor EA288, der laut VW keine unzulässige Abschalteinrichtung hat und daher mit dem EA189 «nicht vergleichbar» ist, gibt es ebenfalls Klagen. Hier hätten Gerichte bislang nahezu ausschließlich zugunsten des Herstellers entschieden. «Von über 10.000 Landgerichtsurteilen sind fast 99 Prozent zugunsten von Volkswagen ergangen», heißt es in Wolfsburg. Bei den mehr als 1000 Verfahren vor Oberlandesgerichten (OLG) sei der Anteil so gut wie 100 Prozent. Anfang 2021 waren zum EA288 rund 8500 Klagen von Kunden anhängig gewesen.

Verantwortung für Kursverluste

Relativ offen ist nach wie vor, wie Schadenersatzforderungen von VW-Aktionären und -Großinvestoren rund um die Abgasaffäre bewertet werden. Das OLG Braunschweig will die mündliche Verhandlung in dieser Sache Ende April nach Stellungnahmen der Parteien fortsetzen. Es geht um die Frage, ob der Konzern die Finanzwelt 2015 möglicherweise zu spät über die drohenden Milliardenrisiken von «Dieselgate» ins Bild gesetzt hat und so für teils beträchtliche Kursverluste mitverantwortlich gemacht werden kann.

Volkswagen bleibt hier auf dem Standpunkt, dass der Vorstand «bis in den Sommer 2015 keine gesicherten Erkenntnisse darüber (hatte), dass die in US-Dieselfahrzeugen verwendete Software ein nach US-Recht verbotenes „defeat device“ enthält». Entwicklung und Einsatz des Täuschungs-Codes seien überdies von «Mitarbeitern nachgelagerter Hierarchieebenen» vollzogen worden, wobei diese ihr Handeln «gezielt höheren Managementebenen verborgen» hätten. Wer wann in welcher Funktion was über die Software wusste, ist auch ein zentrales Thema beim Betrugsstrafprozess gegen ehemalige Manager und Ingenieure von Volkswagen, der seit September am Braunschweiger Landgericht läuft.

Von Jan Petermann und Anja Semmelroch, dpa

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