Venedigs Festivalleiter Alberto Barbera hatte in den vergangenen Jahren oft ein glückliches Händchen. Immerhin holte er regelmäßig Filme in die Auswahl, die später auch vorne bei den Oscars mitmischten.
Deswegen ist die Spannung nun wieder groß: Beim Filmfestival Venedig werden am Samstag die Hauptpreise vergeben – und die waren zuletzt eben immer gute Orakel für die Academy Awards. Filme, die wie zuletzt «Nomadland» hohe Auszeichnungen in Venedig erhielten, feierten häufig in Hollywood weitere Erfolge. Tatsächlich gibt es auch in dieser Festivalausgabe in Italien einige Werke, von denen wir sicher noch einiges hören werden.
Vor allem zwei Werke stechen heraus, deren Bilder und Geschichten nach Filmende in Erinnerung bleiben: In «The Power of the Dog» taucht die neuseeländische Regisseurin Jane Campion («Das Piano») in das Ranch-Leben zweier Brüder in den 1920er Jahren ein, die von Benedict Cumberbatch und Jesse Plemons verkörpert werden. Campion zeigt atemberaubende Aufnahmen der US-amerikanischen Natur und erzählt mit vielen Andeutungen ihre Geschichte um unterdrückte Homosexualität, toxische Männlichkeit, Eifersucht und Abhängigkeiten.
«Spencer» hingegen konzentriert sich völlig auf eine der wohl bekanntesten Persönlichkeiten unserer Zeit: Kristen Stewart spielt Prinzessin Diana, geborene Spencer, die 1991 ein geradezu klaustrophobisches Weihnachtsfest mit den britischen Royals durchleidet. Das Drama des Chilenen Pablo Larraín entstand zu großen Teilen in Deutschland und verdeutlicht eindringlich die Enge, die Diana erlebte – «Twilight»-Star Stewart dürfte diese Rolle einige Aufmerksamkeit und Auszeichnungen einbringen.
Beide Filme gehörten damit auch zu den Werken, die große Stars zu den Festspielen auf dem Lido brachten. Davon gab es in dieser Ausgabe viele, was die internationale Bedeutung des Filmfests noch einmal unterstrich. Auch die außer Konkurrenz gezeigte Horrorfortsetzung «Halloween Kills» mit Jamie Lee Curtis und das Science-Fiction-Epos «Dune» mit Timothée Chalamet, Oscar Isaac, Josh Brolin und Zendaya ließen den Glamourfaktor auf dem roten Teppich in die Höhe schnellen.
Was bei diesen Festspielen außerdem auffiel, waren die vielen ernsten Themen, die filmisch aufgearbeitet wurden. Der Deutsche Franz Rogowski etwa überraschte im italienischen Fantasy-Drama «Freaks Out» als exzentrischer Nazi im Zirkus, und Oscar Isaac erinnerte in «The Card Counter» an die düstere US-Vergangenheit Abu Ghraib. Mit «L’événement» um den Kampf um das Recht auf Abtreibung könnte sich zudem die Französin Audrey Diwan ins engere Favoritenfeld schieben.
Preisverdächtig ist auch der russische Beitrag «Captain Volkonogov Escaped»: Es sind eindringliche Bilder, die die Massenmorde unter Stalin kurz vor Beginn des Zweiten Weltkrieges anprangern. Ebenfalls gute Chancen werden «Leave No Traces» ausgerechnet, das auf wahren Begebenheiten beruht und auf Polizeiwillkür in Polen Anfang der 1980er schaut, die letztendlich das Ende des politischen Systems einläuteten.
Vielleicht mag die Festival-Jury aber eher einen leichteren Ansatz? Immerhin gewann auch ihr Präsident, der Südkoreaner Bong Joon Ho, mit seiner Satire «Parasite» vier Oscars. Dann könnte «Competencia oficial» aus Argentinien triumphieren, nimmt der doch mit Penélope Cruz und Antonio Banderas die Eitelkeiten im Filmgeschäft herrlich bissig und überdreht aufs Korn. Es sind alles höchst unterschiedliche Werke, doch diese Auswahl verdeutlicht gleichzeitig gut: Das Rennen um den Goldenen Löwen für den besten Film ist noch völlig offen und entscheidet sich erst am Samstagabend.