Besucher der documenta fifteen sitzen auf den Stufen des Fridericianums in Kassel. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Uwe Zucchi/dpa)

Bei der documenta fifteen in Kassel sollte sich 100 Tage lang alles um Kunst drehen. Stattdessen wurde die neben der Biennale in Venedig bedeutendste Ausstellung für zeitgenössische Kunst wegen immer neuen Antisemitismus-Vorwürfen zum Politikum. Jetzt stehen die Strukturen der Schau auf dem Prüfstand.

Rückblick

Schon im Vorfeld der documenta fifteen waren erste Stimmen laut geworden, die dem indonesischen Kuratorenkollektiv Ruangrupa und einigen eingeladenen Künstlern eine Nähe zur anti-israelischen Boykottbewegung BDS vorwarfen. Kurz nach der Eröffnung der Schau Mitte Juni wurde eine Arbeit mit antisemitischer Bildsprache entdeckt und abgehängt. Später lösten weitere Werke scharfe Kritik und Forderungen nach einem Abbruch der Ausstellung aus.

Die Vorwürfe brachte den Aufsichtsratsvorsitzenden der documenta, Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD), seine Stellvertreterin, Hessens Kunstministerin Angela Dorn, sowie Kulturstaatsministerin Claudia Roth (beide Grüne) in Bedrängnis, die documenta-Generaldirektorin Sabine Schormann gar zu Fall. Sie legte ihr Amt einen Monat nach Beginn der Schau nieder. Als Reaktion auf die Vorfälle beriefen die Gesellschafter der documenta, die Stadt Kassel und das Land Hessen, ein Expertengremium zur Aufarbeitung. Dessen Abschlussbericht wird für Anfang des Jahres erwartet.

Blick nach vorn

Im Zuge des Eklats waren Rufe nach einer tiefgreifenden Strukturreform der documenta laut geworden. Kulturstaatsministerin Roth hatte künftig mehr Einfluss des Bundes auf die Ausstellung gefordert. Sie drohte, andernfalls den Geldhahn zuzudrehen. Der Bund hatte sich 2018 aus dem Aufsichtsrat zurückgezogen, die Ausstellung aber weiterhin mit 3,5 Millionen Euro gefördert. Der Aufsichtsratsvorsitzende Geselle ging daraufhin offen auf Konfrontationskurs mit Roth und kündigte an, die Stadt Kassel werde die Kunstausstellung im Zweifel allein finanzieren.

An Roths Position hat das nichts geändert. «Wenn der Bund künftig dabei sein soll, dann biete ich das an», sagte sie jetzt der Deutschen Presse-Agentur. Sie habe sich auch nochmal an den Aufsichtsratsvorsitzenden und die Landesregierung gewandt, Gespräche geführt und angeboten. «Eine weitere finanzielle Beteiligung des Bundes bedingt auch eine inhaltliche. Es muss dann auch eine Form der Mitsprachemöglichkeit geben. Wir sind gerade dabei, das zu klären.»

Ein Sprecher der Stadt Kassel teilte mit, die Stadt strebe keine Veränderung ihrer Gesellschafteranteile an der documenta an. Gleichwohl könne die Einbindung des Bundes kurzfristig und ohne strukturelle Veränderungen geschehen. «Das Vorschlagsrecht für die beiden vakanten Sitze im Aufsichtsrat liegt bei der Bundeskulturstiftung. Über das Kontrollgremium ist und war eine Beteiligung für den Bund jederzeit möglich.»

Aus dem hessischen Kunstministerium hieß es, die Stadt Kassel und das Land Hessen hätten sich im Sommer «auf das gemeinsame Ziel verständigt, die Verfehlungen beim Thema Antisemitismus auf der documenta fifteen und die strukturellen Defizite aufzuarbeiten sowie alles daran zu setzen, der documenta auch in Zukunft ihren weltweit einzigartigen Rang als Ausstellung für zeitgenössische Kunst zu sichern.»

Der Aufsichtsrat habe kürzlich bekräftigt, sowohl die Strukturen inklusive Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten als auch die Abläufe einer Überprüfung zu unterziehen. Dazu werde ihm zu Beginn des Jahres als erster Schritt das Ergebnispapier der fachwissenschaftlichen Begleitung vorliegen. «Der Aufsichtsrat betont die Notwendigkeit einer raschen Umsetzung der Empfehlungen. Die Geschäftsführung hat angekündigt, umgehend die Parameter für die nächsten Arbeitsschritte zu benennen», hieß es weiter. Dazu gehöre die schon beschlossene Organisationsanalyse. «Über den Gesamtprozess werden beide Gesellschafter mit dem Bund im engen Dialog bleiben.»

Lehren aus der documentafifteen

Roth spricht von einem tiefen, traurigen Schleier, der über dieser documenta liege und über dem, was an Ängsten, an Verletzungen entstanden sei bei Jüdinnen und Juden und an Entsetzen bei allen. «Es darf künftig nicht mehr so eine Art koordinierte Verantwortungslosigkeit geben, bei der plötzlich gar niemand mehr verantwortlich ist», betonte sie.

Mit dem zehnköpfigen Künstlerteam Ruangrupa hatte erstmals ein Kollektiv die künstlerische Leitung der documenta inne – Kritiker sahen darin einen der Hauptgründe für die Geschehnisse. Ministerin Dorn etwa hatte der Gruppe vorgeworfen «nach dem Prinzip der verteilten Verantwortungslosigkeit gehandelt» zu haben. Ein kuratorisches Konzept könne nicht sein, nicht zu kuratieren, sagte Roth jetzt. «Es braucht gerade in der Konfrontation mit Kultur aus einer ganz anderen Weltregion auch eine kuratorische Verantwortung, die den Ort, an dem ausgestellt wird, nicht ausblendet.»

Ruangrupa selbst sehen die documenta fifteen nicht als gescheitert. «Dass in der Öffentlichkeit vor allem über Antisemitismus gestritten wurde, ist nichts, was ich bedaure – es ist wichtig!», sagte Reza Afisina kürzlich im Interview der Wochenzeitung «Die Zeit».

Es mache keinen Sinn, Kuratoren aus dem Ausland einzuladen und ihnen dann erst mal zu erklären, was gehe und was nicht, sagte sein Kollege Iswanto Hartono. «Wenn Sie auf der documenta nur die deutsche Perspektive haben wollen, brauchen Sie keine internationalen Kuratoren zu holen. Laden Sie einfach Deutsche ein: deutsche Kuratoren, deutsche Künstler, keine Probleme, keine Diskussion. Aber wenn Sie ein internationales Format wollen, dann müssen wir diskutieren.»

Die sechzehnte documenta soll vom 12. Juni bis 19. September 2027 in Kassel stattfinden.

Von Gerd Roth und Nicole Schippers, dpa

Von