BDI-Präsident Siegfried Russwurm warnt vor «taktischen Manövern». (Urheber/Quelle/Verbreiter: Jörg Carstensen/dpa/Archivbild)

Führende Wirtschaftsverbände haben vor einer langen Regierungsbildung nach der Bundestagswahl gewarnt. Alle Parteien müssten Verantwortung zeigen, Prioritäten angehen und auf «taktische Manöver» verzichten, sagte der Präsident des Industrieverbandes BDI, Siegfried Russwurm.

Um Herausforderungen wie Klimaschutz, digitalen Wandel oder geopolitische Krisen zu bewältigen, brauche man etwa eine Verwaltungsreform, schnellere Planungs- und Genehmigungsverfahren und ein Wachstumsprogramm.

Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer sagte, das einzig klare Wahlergebnis sei, dass es viele Koalitionsmöglichkeiten gebe. «Das lässt leider befürchten, dass es Wochen dauern kann, bis Koalitionsverhandlungen zu einem Ergebnis führen.» Genau das müsse vermieden werden, solle eine Erholung der Wirtschaft nicht abgebremst werden. «Eine Hängepartie und eine ähnlich lange Verhandlungsphase wie 2017 ist in diesen ungewissen Zeiten das Letzte, was unsere Betriebe und Unternehmen gebrauchen können.» Ähnlich äußerte sich der Präsident des Digitalverbandes Bitkom, Achim Berg: «Die taktischen Spiele von damals haben wertvolle Zeit gekostet, doch die Digitalisierung duldet keinen Aufschub.»

Perspektiven für Investitionen gefordert

Der Bundesverband mittelständische Wirtschaft forderte Perspektiven für Investitionen. «Der Wirtschaftsstandort Deutschland verträgt angesichts schlechter Wirtschaftsdaten nicht noch einmal Koalitionsverhandlungen im Bummelzugtempo», sagte Bundesgeschäftsführer Markus Jerger.

Die SPD hatte am Sonntag die Bundestagswahl gewonnen und setzt auf eine rasche Verständigung mit Grünen und FDP über ein neues Regierungsbündnis unter der Führung ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. Allerdings bereitet sich auch die zweitplatzierte Union auf Gespräche mit Grünen und Liberalen vor, Kreisen zufolge soll es am Wahlsonntag schon einen ersten Austausch zwischen CDU-Spitzenkandidat Armin Laschet und FDP-Parteichef Christian Lindner gegeben haben. Nach der Wahl 2017 scheiterte ein solches Dreierbündnis nach wochenlangen Gesprächen. Danach dauerte es Monate, bis sich Union und SPD auf eine Neuauflage ihrer Koalition einigten.

Warnung vor Hängepartie

Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagte, Deutschland müsse schneller werden, um die Herausforderungen bewältigen zu können. «Wir dürfen uns nicht mit Abstieg anfreunden.» Klimaschutz und unternehmerische Freiheit dürften keine Gegensätze sein. «Wir brauchen einen breiten Nachhaltigkeitsbegriff, der ökologische und ökonomische Verantwortung zusammendenkt», sagte Dulger. Die Chefin des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft, Kerstin Andreae, forderte, es dürfe keine monatelange Hängepartie geben. «Wir brauchen schnellstmöglich eine Koalition für Klimaschutz und Energiewende.»

Auch der Bankenverband BdB forderte, Reformen mutig anzugehen. «Je eher die neue Koalition arbeitsfähig ist, desto besser», sagte Verbandspräsident Christian Sewing. Digitalisierung und Klimawandel werde man nur mit starken Banken und leistungsfähigen Kapitalmärkten finanzieren können. Der Versicherungsverband GDV nannte als Reformthemen unter anderem Klimawandel, Digitalisierung, den Föderalismus und eine Modernisierung der Verwaltung. «Die politische Mitte ist fragmentierter als früher, aber dennoch kann eine sich abzeichnende Dreierkoalition handlungsfähig sein», sagte Hauptgeschäftsführer Jörg Asmussen.

ZIA-Präsident: «Patt-Situation belastet»

Der Präsident des Immobilienverbands ZIA, Andreas Mattner, sagte, Deutschland brauche Klarheit. «Die Patt-Situation belastet die Wirtschaft insgesamt und sorgt für Abwarten statt Handeln. Als Immobilienbranche brauchen wir rasch Entscheidungen, wie wir zu mehr Wohnungsbau und zu einer Belebung der Innenstädte kommen können.» Auch der Einzelhandelsverband HDE pochte auf eine Stärkung der Innenstädte sowie Entlastungen für Unternehmen.

Auch von Ökonomen kamen Forderungen, schnell Entscheidungen zu treffen. Die Bundesrepublik sei noch nie so gespalten gewesen, sagte der Präsident des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher. «Bei der Regierungsbildung brauchen wir jetzt Tempo und Mut.» Die neue Regierung müsse schnell über Klimaschutz, Digitalisierung und «soziale Erneuerung» entscheiden. «Wenn ihr dies nicht gelingt, wird Deutschlands wirtschaftlicher Wohlstand auf dem Spiel stehen und Europa Gefahr laufen, im Systemwettbewerb mit China und den USA ins Hintertreffen zu geraten.»

Die Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie (IG BCE) mahnte, der Umbau der Industrie müsse so gestaltet werden, dass diese nicht aus Deutschland abwandere. Der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis schlug erneut einen Transformationsfonds vor, mit dem klimagerechte Umbauprojekte in der Industrie unterstützt werden sollten.

Volkswagen-Vorstandschef Herbert Diess sprach sich dafür aus, Maßnahmen für den Klimaschutz schneller zu verwirklichen. In den Verhandlungen über eine künftige Koalition sollte es darum gehen, Subventionen für fossile Kraftstoffe zu beenden und den Ausstieg aus der Kohle deutlich vorzuziehen, schrieb Diess. Der CO2-Preis sollte bereits im Jahr 2024 auf 65 Euro pro Tonne steigen, also zwei Jahre früher als bisher vorgesehen.

Aktienmarkt mit Gewinnen

Obwohl unklar ist, welche Koalition Deutschland regieren wird, reagierte der Aktienmarkt mit Gewinnen. Der Leitindex Dax lag zum Handelsschluss 0,27 Prozent über dem Freitagsstand bei 15.573,88 Punkten. Investoren reagierten erleichtert darüber, dass ein von ihnen befürchteter Linksruck ausgeblieben ist. Auf den Devisenmarkt hatte das Ergebnis der Bundestagswahl zunächst keinen großen Einfluss. Der Euro hat am Montag etwas nachgegeben.

Viele Anleger und Unternehmer dürften «erleichtert sein, dass ein rot-grün-rotes Bündnis auf keine Mehrheit gekommen ist», sagte Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank. Aber auch ein marktwirtschaftliches Reformprogramm sei unwahrscheinlich: «Eurokurs und italienische Staatsanleihen dürften auf den Ausgang der Bundestagswahl erst dann reagieren, wenn sich abzeichnet, wie sich eine neue Bundesregierung in der Frage der gemeinsamen Schuldenaufnahme innerhalb der EU positionieren wird.»

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