Mitarbeiter des Puppentheaters Zwickau demonstrieren die virtuelle Darbietung der Ballade «Der Erlkönig». (Urheber/Quelle/Verbreiter: Sebastian Willnow/dpa)

Goethes «Erlkönig» ist die neueste Produktion des Figurentheaters Zwickau, doch zur Premiere wird kein einziger Puppenspieler auf der Bühne stehen.

Erstmals hat das kleine Team ein Stück in die Virtuelle Realität (VR) verlagert. Den Gästen werden dazu am Samstag in einem Hörsaal VR-Brillen verpasst, die sie optisch auf eine Lichtung katapultieren. Um sie herum begegnen ihnen dann scheinbar zum Greifen nah Vater und Sohn, aber auch schaurig schöne Tiergestalten aus Zweigen und Knochen. «Das ist für uns ein Abenteuer», sagt Direktorin Monika Gerboc. «Wir hoffen, so neue Publikumsgruppen fürs zeitgenössische Figurentheater zu gewinnen.»

Wie in Zwickau loten immer mehr Theater in Deutschland künstlerisch Möglichkeiten des Digitalen aus und erschließen sich so neue Räume. Dabei geht es längst nicht mehr nur darum, konventionelle Produktionen im Internet zu streamen, wie es viele Bühnen zu Beginn der Corona-Pandemie getan haben. Vielmehr werden Stücke speziell fürs Digitale geschaffen und neue Erzählweisen ausprobiert.

Digitalisierung schafft neue Möglichkeiten

Das Inszenieren mit digitalen Mitteln habe einen unglaublichen Schub bekommen, konstatiert der Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Carsten Brosda. Die Corona-Pandemie habe wie ein Katalysator gewirkt. Die Digitalisierung schaffe neue Möglichkeiten, das Publikum zu erreichen und anzusprechen, ist der Hamburger Kultursenator überzeugt. «Zum anderen entstehen auch neue künstlerische Ausdrucksformen.» Das digitale Theater könne das klassische Theater ergänzen, aber auch ein ganz neues Theatererlebnis schaffen.

Ein Beispiel sind hybride Produktionen, bei denen neben dem Geschehen auf der Bühne die Zuschauer im Saal für einzelne Szenen VR-Brillen aufsetzen wie in der Oper «Orfeo ed Euridice» des Staatstheaters Augsburg. Ballette, Konzerte und Theaterstücke werden aber auch komplett virtuell in 360-Grad-Perspektive geboten wie beim Zwickauer «Erlkönig». Mit einer VR-Brille, die mit dem Ticket leihweise per Post bestellt werden kann, können sich die Zuschauer die Stücke zu Hause ansehen oder im Unterricht in der Schule. Andere Geschichten werden live im Internet erzählt wie bei der Adaption von Goethes «Werther» des Kollektivs «punktlive».

Staatstheater Augsburg hat eigene Digital-Sparte

Erprobt werden aber auch interaktive Formate, bei denen Zuschauer sogar auf den Fortgang des Geschehens Einfluss nehmen können. Oder Publikum und Schauspieler begegnen sich gänzlich im kollektiven virtuellen Raum, dem sogenannten Metaversum, wie beim Elektrotheater.

Zu den Vorreitern in Deutschland zählt das Staatstheater Augsburg, das schon zahlreiche VR-Produktionen anbietet – vor allem Ballett und Schauspiel. Das Theater hat dazu eine eigene Digital-Sparte ins Leben gerufen. Am Nationaltheater Mannheim wurde 2021 das Institut für Digitaldramatik gegründet. Es soll erforschen, «wie Texte für neue digitale Bühnen entstehen können». Einblicke dazu gibt es auf der bei Jugendlichen beliebten Plattform TikTok.

«Alle Theater werden sich der digitalen Transformation stellen müssen», betont der Direktor der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität Marcus Lobbes. Diese Entwicklung habe schon vor der Corona-Pandemie begonnen, doch die Schließungen hätten als Booster gewirkt. Die Dortmunder Akademie versteht sich als Labor für das Theater der Zukunft. Lobbes: «Wir werden seit zwei Jahren von Anfragen überrannt.»

«Digitalen Wandel aktiv gestalten»

Erst voriges Jahr hat sich das Theaternetzwerk «Digital» gegründet, dem Bühnen nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz angehören. «Wir wollen den digitalen Wandel aktiv und mit den Mitteln der Kunst gestalten; wir möchten uns neue Spiel- und Handlungsräume erschließen, wollen den physischen Bühnenraum ins Digitale erweitern und neue Formen der Zusammenarbeit testen», heißt es dort. Auch der Deutsche Bühnenverein bereitet die Gründung einer Arbeitsgruppe «Digitales» vor, um Erfahrungen zu bündeln.

Das Publikum stehe solchen neuen Formaten offener gegenüber als oft angenommen, berichten Lobbes und der Augsburger Intendant André Bücker. «Wir wollen das Theater nicht als physischen Versammlungsort abschaffen», stellt Bücker klar. «Es wird neben analogen Bühnen künftig aber verstärkt auch digitale Bühnen geben. Und es geht darum, die Räume für darstellende Kunst und für Erzählungen zu erweitern.»

Zunächst seien klassische Theaterabonnenten die Nutzer gewesen, schildert Bücker die Erfahrungen seines Hauses. Viele hätten das dann Kindern und Enkeln weiter empfohlen: «Es wurden sehr viele Gutscheine gekauft.» Inzwischen würden die Angebote oft von Menschen genutzt, die vorher nie im Theater waren. Dazu präsentiert sich sein Haus inzwischen auch auf Gamer-Plattformen im Internet. Gerade bei Videospielern ist VR weit verbreitet. Und den Theatern eröffnen sich mit dem Digitalen weit größere Reichweiten. So kann man sich die Augsburger Produktionen weltweit auf die VR-Brille laden.

«Personeller Vielfaches größer»

Für die Zwickauer Bühne war der «Erlkönig» eine Herkulesaufgabe. Ihr kleines Team sei ständig an Grenzen gestoßen und trotz langjähriger Regie-Erfahrung habe sie viel neu lernen müssen, erzählt Gerboc. Der personelle und finanzielle Aufwand sei ein Vielfaches größer als bei einer klassischen Bühneninszenierung. Für ihr Haus war die Produktion daher nur mit Fördermitteln und Partnern zu stemmen. Dennoch wird eine Fortsetzung vorbereitet. In der Balladenreihe nehmen sich die Zwickauer als nächstes «Die Goldgräber» von Emanuel Geibel und Georg Trakls «Melusine» vor – ebenfalls in 360 Grad virtueller Realität.

Und wie geht es den Künstlern, wenn das Publikum künftig daheim mit VR-Brille sitzt und kein Applaus zurückkommt? Puppenspieler Calum MacAskill vergleicht das Ganze mit einer Flaschenpost ans Publikum: «Ich werde den Empfänger nicht sehen, aber ich weiß, es gibt ihn und hoffe, das Stück macht ihm Freude.»

Von Andreas Hummel, dpa

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