Cover des Buches "Die Nacht unterm Schnee" von Ralf Rothmann. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Suhrkamp Verlag/dpa)

Wie kann man literarisch vom Krieg erzählen, in dieser Zeit, wo die Nachrichten und Bilder von Tod und Zerstörung täglich ganz nah an uns heranrücken? Vielleicht muss man den Blick ein wenig zurücklenken, auf die große Katastrophe des 20. Jahrhunderts.

Anknüpfend an die Lebensgeschichten seiner Eltern bringt der 1953 in Schleswig geborene Ralf Rothmann in nunmehr drei Romanen die Traumata des Zweiten Weltkrieges zurück in unsere Erinnerung – nicht als bloße biografische Aufarbeitung, sondern in Form einer präzise und virtuos verdichteten Trilogie über das eigentlich Unsagbare.

Nach «Im Frühling sterben» (2015) und «Der Gott jenes Sommers» (2018) setzt der neue Roman «Die Nacht unterm Schnee» ein mit der dramatischen Flucht der knapp 17-jährigen Elisabeth. Sie versucht im Winter 1944/45 von Danzig aus vor den heranrückenden Russen in den Westen zu kommen. Für das junge Mädchen wird diese Zeit zu einer Höllenfahrt: Nach Angriffen irrt sie einsam herum, wird von russischen Soldaten aufgegriffen und vergewaltigt. In kurzen, schmerzhaft genau geschilderten Rückblenden kommt der Roman, der dann weit in die Nachkriegsjahre ausholt, immer wieder auf dieses Drama zurück. Die ungeheuerliche Gewalttat verdunkelt wie eine Unglückswolke ein ganzes Leben.

Nach dem Krieg jobbt Elisabeth als Kellnerin in einem Marinekasino in Kiel, eine nach außen hin selbstbewusste, aber emotional unstete Frau, die neben ihrer Beziehung zu ihrem alten Freund Walter auch noch andere Liebschaften pflegt. Nach einem Selbstmordversuch zieht sie schließlich mit Walter eher notgedrungen aufs Land an die Schlei, wo die beiden auf einem Gutshof als Melker arbeiten. Elisabeth bekommt ihr erstes Kind und richtet sich im ungeliebten, ärmlichen Landleben ein.

Meisterhaft evoziert Rothmann die trügerische Atmosphäre der Nachkriegszeit, in der jeder Anflug von Reue und Schuld gnadenlos verdrängt wurde. «Die bunte Krone des Kettenkarussells drehte sich über Ruinen», heißt es einmal. Der Rummelplatz mit seinen Schießständen gerät zur gespenstischen Kulisse. Und über die verlockende «Berliner Weiße» sagt die Ich-Erzählerin Luisa: «Das Süße darin war eigentlich bitter».

Die etwas weltfremde Luisa, die Bücher über alles liebt und später Bibliothekarin wird, hat mehr Glück im Leben als ihre einige Jahre ältere Freundin Elisabeth. Und doch bleibt ein Schmerz, weil sie seit Kindertagen eigentlich unsterblich in Walter verliebt ist. Diese unausgesprochene, nur einmal kurz aufscheinende Liebesgeschichte ist das geheime Herz dieses Romans, der ansonsten die niederschmetternde Geschichte einer zutiefst unglücklichen Ehe erzählt.

Nach einigen freudlosen Jahren auf dem Land ziehen Elisabeth und Walter ins Ruhrgebiet, wo die harte Arbeit gut bezahlt wird. Jahrelang malocht Walter unter Tage auf der Zeche, ruiniert seine Gesundheit, wird immer schweigsamer und verschlossener, während die Kettenraucherin Elisabeth sich immer wieder ins schale Vergnügen stürzt.

Sie wird ihre Traumata und Verletzungen nicht los, auch nach Jahrzehnten nicht, aber selbst in der Hölle des Krieges gab es damals ein Licht. Es geschah ein Wunder. Ein Mensch namens Dimitrij findet das geschändete Mädchen, bringt sie in seinen Unterschlupf unter der Erde, verbindet ihre Wunden und päppelt sie wieder auf. Ganz konkrete Nächstenliebe, durchaus im christlichen Sinne ist bei Rothmann zumindest als Möglichkeit immer präsent.

Tod und Zerstörung haben nicht das letzte Wort in dieser bewegenden, herausragenden Trilogie. Am Ende von «Der Gott jenes Sommers» erschien eine unkonventionelle Ordensschwester, die der um ihre Schwester trauernden Luisa neuen Mut zusprach. Und diesmal sind es die Glocken der Marienkirche in Danzig, die der ganz jungen Elisabeth eine erhebende Ahnung von einem anderen, besseren Leben schenken.

Ralf Rothmann, Die Nacht unterm Schnee, Suhrkamp Verlag 2022, 304 S., 24 Euro, ISBN: 978-3-518-43085-9

Von Johannes von der Gathen, dpa

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