Der Bahnsteig vom Bremer Hauptbahnhof ist menschenleer. Mit einem großangelegten bundesweiten Warnstreik haben die Gewerkschaften EVG und Verdi weite Teile des öffentlichen Verkehrs lahmgelegt. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Sina Schuldt/dpa)

Was für ein Tag! Leergefegte Bahnhöfe, verwaiste Bushaltestellen, menschenleere Terminals, lange Reihen von abgestellten Passagierjets. Einzige Botschaft auf den Anzeigetafeln der Flughäfen: Cancelled. Cancelled. Cancelled. «Fast ein bisschen gespenstisch», findet eine Sprecherin der Verkehrsleitung des Flughafens München. Einen solchen Tag hat Deutschland in diesem Jahrhundert noch nicht erlebt. «Wer kann, sollte im Homeoffice bleiben», rät der ADAC. Viele machen das offenbar oder schwingen sich trotz winterlicher Temperaturen aufs Rad. Das befürchtete Chaos auf den Straßen bleibt jedenfalls aus.

Der Streik vom Montag haut rein – anders kann man es nicht sagen. Man muss schon sehr weit zurückgehen, um überhaupt etwas Vergleichbares zu finden. Mehr als 30 Jahre, um genau zu sein: 1992 gab es den letzten großen Streik im öffentlichen Dienst. Damals kein eintägiger Warnstreik, sondern ein «richtiger» Streik von elf Tagen Dauer.

Das Besondere ist diesmal aber auch, dass zwei Gewerkschaften gemeinsame Sache machen: die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG. Ist das jetzt ein Modell für die Zukunft, wird Verdi-Chef Frank Werneke am Vormittag vor Beginn der dritten Verhandlungsrunde für den öffentlichen Dienst in Potsdam gefragt. «Wenn sich die Gelegenheit ergibt, dann werden wir als Gewerkschaften immer prüfen, wie wir Kräfte bündeln können», antwortet der Gewerkschaftsboss.

Alles noch verhältnismäßig?

Der Politikwissenschaftler Thorsten Schulten von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung glaubt allerdings, dass man das nicht überbewerten darf: «Es ist ein Stück weit zufällig, dass jetzt beide zur selben Zeit verhandeln und den gleichen Counterpart haben, nämlich den Staat – der bei der Bahn ja auch als Haupteigner dahinter steht.»

Die große Frage dieses Tages ist: Ist das alles noch verhältnismäßig? Nein, ist dazu die Meinung von Hagen Lesch, Tarifpolitik-Experte beim arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW). «Aus meiner Sicht stehen hier andere Dinge im Vordergrund. Es geht weniger darum, den Forderungen Nachdruck zu verleihen – dafür hat Verdi in den letzten Wochen genug gestreikt. Ich glaube, das Ziel ist eher, neue Mitglieder zu gewinnen. Wenn das Schule macht, dann kriegen wir eine Republik, in der die Gewerkschaften vor jeder Tarifrunde massiv mobilisieren. Dann gibt es künftig deutlich mehr Streiks, als wir das bisher gewohnt waren.»

Der vorherrschende Eindruck ist auf jeden Fall, dass die Gewerkschaften mit einem neuen Selbstbewusstsein auftreten. Und dafür gibt es handfeste Gründe: «Es fehlen Bewerberinnen und Bewerber an jeder Ecke», sagt Gewerkschaftschef Werneke. Das versetze die Gewerkschaften in eine Position der Stärke.

Der Arbeitsmarkt habe sich gedreht, bestätigt auch IW-Experte Lesch. Allerdings schränkt er ein: «Die Frage ist nur, inwieweit die Gewerkschaften davon profitieren. Diejenigen, die am gefragtesten sind, können sich ihre Jobs ja eh aussuchen – die sind auf die Gewerkschaften nicht angewiesen. Derzeit versucht Verdi ja eher, im unteren Lohngruppenbereich zu punkten. Das spricht keine IT-Fachleute an.»

Droht eine Inflationsspirale?

Was den Konflikt derzeit besonders stark antreibt, ist die Inflation. Das Leben ist teurer geworden – jeder weiß das. Das erzeugt Handlungsdruck. Lesch sieht hier allerdings auch die Gefahr einer Inflationsspirale: Die Beschäftigten fordern mehr Geld, weil die Preise gestiegen sind, die Unternehmen reagieren darauf, indem sie die Preise für ihre Produkte erhöhen, und so wird alles noch teurer. «Die Gefahr, dass das so kommt, ist riesengroß.»

Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Yougov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur hat ergeben, dass eine Mehrheit von 55 Prozent der Befragten den Streik für «eher» oder «voll und ganz» gerechtfertigt hält. Gleichwohl konstatiert der Psychologe Stephan Grünewald, Autor des Bestsellers «Wie tickt Deutschland?», als Folge des Streiks ein Gefühl des Ausgeliefertseins. «Teile der Bevölkerung erleben den Tag als kleinen Verkehrs-Lockdown», sagt der Gründer des Kölner Rheingold-Instituts der dpa.

Die große Streikbereitschaft vieler Beschäftigter führt Grünewald auch auf die derzeitige Stimmungslage in der Gesellschaft zurück. «Wir beobachten in aktuellen Studien eine zunehmende Gereiztheit der Menschen. Die Dauerkrisen haben wirklich dazu geführt, dass die Lunte kurz ist.» Viele seien nach Corona nicht in einer Aufbruchsstimmung, sondern in einem Resignationsmodus. Eine repräsentative Untersuchung des Rheingold-Instituts ergab, dass 33 Prozent der Befragten diese Resignation in Trotz und Wut umsetzen.

Vertrauen in die Politik auf dem Tiefpunkt

«Wir erleben bei einem Drittel der Bevölkerung ein schwelendes Wutpotenzial», so Grünewald. «Das Vertrauen in die Regierenden und in die Substanz Deutschlands ist auf einem Tiefpunkt. Die Schulen sind marode, die Brücken nicht mehr tragfähig, die Bundeswehr nicht mehr wehrfähig, Medikamente nicht mehr erhältlich. Das Zutrauen in den Standort ist erschüttert.» Das alte Bild des wohlgeordneten, verlässlichen Deutschland sei zerbrochen.

Starke Unzufriedenheit unter den Arbeitnehmern gibt es derzeit nicht nur in Deutschland, es brodelt in vielen Ländern. Beispiel Großbritannien: «Dieses Land gilt seit den Zeiten von Margaret Thatcher als besonders marktorientiert, und doch erleben wir dort jetzt eine regelrechte Streikwelle», analysiert der Schweizer Streikhistoriker Adrian Zimmermann. Noch härter geht es in Frankreich zur Sache – der britische König Charles III. wurde dort aus Angst vor Unruhen sogar kurzfristig ausgeladen.

Der Historiker Zimmermann sieht jedoch mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Frankreich. «Die französischen Gewerkschaften sind extrem schwach und zersplittert. Gemessen am Organisationsgrad bildet Frankreich in Europa zusammen mit Spanien das absolute Schlusslicht. Deutschland liegt da im unteren Mittelfeld.» Dafür gibt es aber in Frankreich anders als in Deutschland ein in der Verfassung verankertes individuelles Streikrecht – jeder kann für sich selbst beschließen, in den Streik zu treten. Vor allem aber kommt es regelmäßig – wie jetzt auch wieder wegen der geplanten Heraufsetzung des Rentenalters – zu politischen Streiks.

Das deutsche System sei nicht auf Konflikt, sondern auf Kompromissfindung angelegt, betont der Tarifexperte Schulten. «Im Moment gibt es viel Aufregung über diesen Mega-, Monster- Super-Streik oder was ich da noch alles gelesen habe. Aber möglicherweise machen die Arbeitgeber jetzt einfach ein verbessertes Angebot, und dann einigt man sich. Und wenn nicht, dann wird es eine Schlichtung geben, und dass es dann doch noch zu einer Urabstimmung und Streiks kommt, das halte ich doch eher für unwahrscheinlich. Ich tippe darauf, dass wir den Streiktag im Rückblick als halb so schlimm in Erinnerung behalten werden.»

Von Christoph Driessen, dpa

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