Im Jahr 2019 versetzte ein Statement von Lars Ulrich, Kirk Hammett und Rob Trujillo die Fans von Metallica in Aufruhr. Die drei Musiker sagten damals die Tour der Band in Australien und Neuseeland ab und begründeten das damit, ihr Frontmann James Hetfield sei wieder auf Entzug.
Knapp vier Jahre danach kommt nun das neue Album der Metal-Giganten heraus, das eine kleine Ahnung davon gibt, wie es Hetfield, dessen Sucht vielen Fans eigentlich schon als überwunden galt, damals gegangen sein muss. «72 Seasons» erscheint an diesem Freitag (14. April) – und dokumentiert einen Kampf mit Dämonen.
Schon der Einstiegssong ist ein Kracher epischen Ausmaßes. Fast acht Minuten dauert der Titelsong «72 Seasons», in dem es vor allem um eins geht: «Wrath of man», um Zorn. Es geht um Traumatisierung und das Gefühl, von der Vergangenheit verfolgt zu werden.
Der Titel von Album und Opener bezieht sich «auf die ersten 72 Jahreszeiten». Die Band meint damit die ersten 18 Jahre im Leben eines Menschen. «Die ersten 18 Jahre, die unser wahres oder falsches Ich formen. Das Konzept, dass wir von unseren Eltern gesagt bekamen, «wer wir sind». Eine mögliche Einordnung, welche Persönlichkeiten wir in etwa sind», beschreibt Hetfield diese Zeit im Pressetext zum neuen Album.
«Ich denke, das Spannendste daran ist das kontinuierliche Studium dieser Glaubenssätze und wie sie unsere Wahrnehmung der Welt heute beeinflussen», sagt der 59-Jährige, der nach Medienberichten im vergangenen Jahr – nach rund 30 gemeinsamen Jahren – die Scheidung von seiner Ehefrau einreichte. Es gebe zwei Möglichkeiten, sagt Hetfield: «Gefangene der Kindheit» zu sein – oder sich von den «Fesseln, die wir tragen» zu befreien.
Eine ausweglos scheinende Schlacht
Die zwölf Songs des Albums zeigen diesen Befreiungskampf – lassen aber große Zweifel daran, dass er gut ausgeht. «History must burn» («Die Geschichte muss brennen») singt ein auf diesem Album ausnehmend stimmgewaltiger Hetfield in «You Must Burn». «I run – Still my shadows follow» («Ich renne, doch meine Schatten folgen noch»), heißt es in dem Song «Shadows Follow».
«Welcome to this life – Born into the fight» («Willkommen in diesem Leben – Hineingeboren in den Kampf») lautet eine Zeile in dem schon vorab veröffentlichten «Screaming Suicide» über dunkle Gedanken an Suizid.
«This rusted empire I own – Bleed as I rust on this throne» («Dieses verrostete Imperium, das ich besitze, blutet, während ich auf diesem Thron verroste») aus dem Song «Crown Of Barbed Wire» (Krone aus Stacheldraht) lässt sich auch als eine Auseinandersetzung Hetfields mit seiner Rolle als Thrash-Metal-König lesen, also dieser besonders schnellen Spielart des Metal.
«72 Seasons» erzählt nicht von einem erfolgreich abgeschlossenen Kampf, es nimmt den Hörer mit hinein in eine tobende und immer wieder ausweglos scheinende Schlacht. Der achte Song «Chasing Light» handelt zwar von der Jagd nach dem Licht, beginnt und endet aber desillusioniert mit dem Satz: «There’s no light» – Es gibt kein Licht.
Düster und schwer
Auch wenn die erste, schnelle und kraftvolle Single «Lux Æterna» (mit nur 3,22 Minuten Laufzeit der mit Abstand kürzeste Song auf dem Album) noch eine etwas andere Richtung vermuten ließ, ist das nach Angaben der Plattenfirma elfte Studio-Album der Metal-Giganten ein sehr schweres, düsteres Gesamtwerk geworden. Eins, das dem Hörer nicht nur wegen der vergleichsweise langen Dauer Zeit abverlangt und die Bereitschaft, einzutauchen in diese düsteren Gedanken voller Angst, Hass und Selbstzerstörung.
Es ist sicher keine Platte geworden, auf der sich Hit an Hit reiht, die Metal-Fans bei Festivals komplett mitsingen können wie beim legendären Black Album von 1991 (das mit «Enter Sandman» und «Nothing Else Matters»). Aber «72 Seasons» ist so persönlich und berührend geworden, so ehrlich und verletzlich, dass nicht nur die größten Metallica-Fans sich die Zeit nehmen und darauf einlassen sollten. Hetfields Einladung: «Meet the ghosts where I reside» («Triff die Geister dort wo ich lebe»).
Wer bis zum Schluss durchhält, wird belohnt mit dem epischen «Inamorata», dem womöglich stärksten, mit mehr als elf Minuten auch längsten Song des Albums, in dem Hetfield seinen Fans einen Hoffnungsschimmer schenkt und den Glauben an ein Überwinden des persönlichen Elends: «Misery – She’s not what I’m living for».