Rund 580.000 Beschäftigte in der deutschen Chemie- und Pharmabranche bekommen deutlich mehr Geld. (Urheber/Quelle/Verbreiter: Hendrik Schmidt/dpa)

Inmitten von Gaskrise und Rekordinflation haben sich Gewerkschaft und Arbeitgeber auf deutlich mehr Geld für 580.000 Beschäftigten in der Chemie- und Pharmabranche geeinigt. Am dritten Tag ihrer Tarifverhandlungen in Wiesbaden beschlossen sie steuerfreie Sonderzahlungen von rund 3000 Euro und dauerhafte Lohnerhöhungen von je 3,25 Prozent in zwei Stufen.

Während der Arbeitgeberverband BAVC auf Flexibilitätsklauseln verwies, der den Unternehmen Freiraum gibt, sprach die Gewerkschaft IG BCE von der «höchsten Tariferhöhung in der Chemie seit mehr als 30 Jahren». Der Abschluss könnte ein Signal für andere Tarifverhandlungen mit Millionen Betroffenen sein.

Die Chemie- und Pharmabeschäftigten erhalten die beiden tabellenwirksamen Lohnsteigerungen ab Januar 2023 und ab Januar 2024. Dazukommen die Einmalzahlungen als steuer- und abgabenfreies «Inflationsgeld» – auch sie sollen in zwei Schritten von jeweils 1500 Euro ausgezahlt werden: spätestens im Januar 2023 und im Januar 2024. Die Option abgabenfreier Einmalzahlungen bis zu 3000 Euro, die der Steuerzahler mitfinanziert, hatte die Bundesregierung im Kampf gegen die Inflation möglich gemacht. Die Laufzeit des Tarifabschlusses, der für 1900 Betriebe gilt, beträgt 20 Monate.

«Mit diesem Ergebnis halten wir die Balance zwischen der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und den Interessen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter», sagte BAVC-Präsident Kai Beckmann. Die Arbeitgeber, die immer wieder auf die Gaskrise als Bürde verwiesen hatten, setzten neben der vergleichsweise langen Laufzeit eine Flexibilitätsklausel durch: Firmen mit wirtschaftlichen Problemen können die beiden Lohnerhöhungen um bis zu drei Monate verschieben. Für die Sonderzahlung gilt das nicht. Verhandlungsführer Hans Oberschulte sprach von einem «krisengerechten Abschluss».

Besondere Entlastung für untere Lohngruppen

Die IG BCE betonte, dass die steuer- und sozialabgabenfreien Sonderzahlungen besonders die unteren Lohngruppen in der Branche entlasteten. Das Paket bedeute für die Beschäftigten eine Nettoentlastung von im Schnitt 12,94 Prozent über die Laufzeit. In einer «historischen Ausnahmesituation» mit ungekannten Inflationsraten und drohender Rezession hätten die Tarifparteien Verantwortung übernommen, sagte der Vorsitzende der IG BCE, Michael Vassiliadis. Gütliche Einigungen in Tarifverhandlungen haben in der Branche Tradition: Den letzten Streik gab es 1971.

Schon im April hatten sich IG BCE und BAVC wegen der Unsicherheit um Ukraine-Krieg und Inflation auf einen Teilabschluss als Brücke geeinigt, der Ende Oktober ausläuft: Eine Einmalzahlung von 1400 Euro. Ursprünglich hatte die IG BCE Lohnsteigerungen oberhalb der Inflationsrate gefordert. Doch mit der Energiekrise zog die Teuerungsrate seither an und erreichte im September 10 Prozent – der höchste Stand seit mehr als 70 Jahren.

Hoher Gasverbrauch

Seither hat sich auch die Gaskrise zugespitzt, welche die Chemie besonders trifft. Die drittgrößte deutsche Industriebranche nach dem Auto- und Maschinenbau ist mit einem Anteil von 15 Prozent größter Gasverbraucher. Sie benötigt Gas als Energieträger, aber auch als Rohstoff für die Produktion etwa von Kunststoff und Dünger. Die Branche kann die Gaspreise zudem nur begrenzt weitergeben. Der Chemiekonzern BASF hat nach einem Ergebniseinbruch schon ein Sparprogramm angekündigt, um die jährlichen Kosten außerhalb der Produktion um 500 Millionen Euro zu drücken. Am Hauptsitz Ludwigshafen drohen Stellenstreichungen.

Mögliche Signalwirkung für andere Branchen

Zwar hat die Chemie- und Pharmaindustrie mit einem Rekordumsatz von rund 220 Milliarden Euro im vergangenen Jahr finanziellen Spielraum. Vassiliadis sieht in dem Abschluss aber auch eine Signalwirkung über die Branche hinaus. Tarifverhandlungen stehen wegen der Inflation besonders im Fokus. Während die Gewerkschaften satte Lohnerhöhungen durchsetzen wollen, warnt die Wirtschaft vor einer Überlastung.

Entsprechend schwierig gestalten sich andere Tarifgespräche. So stocken die Verhandlungen für rund 3,8 Millionen Beschäftigten in der Metall- und Elektrobranche. Hier fordert die IG Metall eine Lohnerhöhung von 8 Prozent. Auch bei den Verhandlungen für rund 2,5 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst, die Anfang kommenden Jahres beginnen, drohen schwierige Gespräche. Verdi und der Beamtenbund verlangen ein Plus von 10,5 Prozent. Manche Ökonomen sehen angesichts solcher Zahlen die Gefahr einer Lohn-Preis-Spirale, welche die Inflation anheizen könnte. Der Abschluss in der Chemie mit Sonderzahlungen könnte nun ein Modell sein.

Von Alexander Sturm, dpa

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